Zurzeit gehen alle grossen Literaturpreise an Autoren, die eine Vergangenheit aufarbeiten. Der Schweizer Buchpreis könnte sich einreihen. Woher kommt der Trend?
Am auffälligsten war es im März. Vier der fünf nominierten Bücher für den Leipziger Buchpreis lebten von der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Da muss bei Fabian Hischmann (unsere Besprechung) ein Frühdreissiger mit dem Konkurrenten seiner Jugend ins Reine kommen, Saša Stanišić faltet die Vergangenheit eines uckermärkischen Dorfes auf, Katja Petrowskaja folgt den Spuren ihrer jüdischen Vorfahren, Per Leo rollt gleich 400 Jahre Familiengeschichte auf.
Natürlich könnte man sagen, dass die Erinnerung die Grundgeste des Erzählens ist. Jemand hat etwas erlebt oder davon gehört und muss es mitteilen. Fantasie, sagt man, wird ebenfalls vom Erlebten ausgelöst. Das Vergangene spielt die wichtigste Rolle für die Gegenwart des Erzählers.
Aber bei den Büchern, die gerade hoch im Kurs der Preisjurys stehen (siehe Box), ist diese Rolle spezifischer. Etwa bei Saša Stanišić, der in seinem 14. Lebensjahr von Bosnien nach Deutschland zog und in Leipzig mit seinem zweiten Roman «Vor dem Fest» das Rennen gemacht hat (unsere Besprechung). Letzte Woche war er im Literaturhaus Basel zu hören, wo Gelegenheit zur Frage war: Was hat ihn dazu gebracht, sich für seine Herkunft zu interessieren? Das sei nämlich lange nicht der Fall gewesen, hatte er im Bühnengespräch erzählt. Und nun ist aus diesem Interesse das Porträt des uckermärkischen Dorfes Fürstenfelde geworden, als Entsprechung des bosnischen Dorfes, in dem noch sein Grossvater lebte.
«Durch den Unterbruch in meiner Biografie habe ich nie ein intimes Verhältnis zu einer Landschaft aufgebaut», sagt Stanišić. «Die Geschichte eines Ortes erlaubt mir, mit diesem Ort, der eigentlich fremd ist, umzugehen.» Sein Roman über Fürstenfelde ist also eine Ersatzhandlung, um sich so etwas wie Heimat zu erschreiben. Theoretisch jedenfalls. «Das intellektuelle Experiment hat natürlich auch keine Intimität zu Fürstenfelde hergestellt», fügt er an.
Neues Verlangen nach Halt
Etwas Ähnliches passiert beim Nobelpreisträger Patrick Modiano, obwohl er eine Generation älter ist. In einem seiner wenigen Interviews sagte er 2010 der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung»:
«Vielleicht steht das Fehlen einer kulturell und geografisch gesicherten Herkunft am Anfang meines Schreibens. Statt Normalität und der Ahnung vom Paradies gab es bei mir immer nur Rätsel und Fragwürdigkeit. Warum lebte ich nicht bei meinen Eltern? Warum sagte mir keiner, woher ich kam? Wohin ich gehörte? Das Schreiben ist ein Versuch, hinter diese Rätsel zu kommen.»
Das Rätsel der Herkunft verbindet sich bei Modiano mit der Zeit, in die er 1945 in Paris hineingeboren wurde und um die alle seine Bücher kreisen: «Meine Existenz ist auf dem Mist jener Besatzungsjahre gewachsen, ich fühle mich wie ein Medium für deren besondere Stimmungen und Schicksale.»
Die Autoren, von denen hier die Rede ist, schreiben aus dem Gefühl der fehlenden Verwurzelung heraus. Und gegen es an. Obwohl diese Konstellation allein keine gute Literatur macht, verleiht sie vielleicht eine besondere Relevanz: Hier arbeitet Literatur. Sie leistet ihren Dienst an der Gesellschaft. Und vielleicht wächst das Bedürfnis nach Neuverwurzelung in einer Zeit, in der man als Single leben kann oder in mehreren Beziehungen zugleich, in der man sich anonym von der Samenbank befruchten lassen kann, in der man heute Punk sein kann und morgen Pfarrer – und in der die klassische Ehe doch wieder ziemlich en vogue ist.
Alge statt Eiche
Man kann dieselben Umtände auch umgekehrt deuten. Viele Kulturmenschen kommen aus Verhältnissen, die intakt sind und darum nicht sehr interessant. Heimat? Die wird dann im Zweifelsfalle Berlin. Daraus entsteht eine andere Literatur, und die Theorie dafür hat kürzlich Friedrich Liechtenstein in einem Interview mit der «Zeit» geliefert (online nicht verfügbar). Liechtenstein, seit seinem Werbeclip für die Supermarktkette Edeka berühmt, war neulich ebenfalls in Basel und gab in der Kaserne ein sehr seltsames Konzert. Morgens um halb fünf sah ihn der Reporter in einer Frittenbude an der Feldbergstrasse wieder, immer noch mit Smoking, Einstecktuch und goldgetönter Brille. Liechtenstein ist sicher kein klassischer Vertreter von E-Kultur, wurde aber unterdessen vom Feuilleton entdeckt. Im Interview sagt er:
«Das Eichenbild ruht nach wie vor in uns als Leitwert. So entstehen die Arten, so sieht die gesunde Familie aus. Die Alge aber ist ein besseres Bild, weil da alles möglich ist, alle möglichen Verwandlungen. Wenn man sich das als Vorbild nimmt, kann man schneller glücklich sein. Dann kann man sagen: Eigentlich ganz gut, dass ich meinen fünften Beruf habe, dass ich mal in einem Riesenhaus gelebt habe und nun in einem kleinen Dachzimmer wohne, dass ich zum fünften Mal geheiratet habe und dass ich seit zwei Jahren nicht mehr Auto fahre, aber vielleicht habe ich ja in drei Jahren ein Segelboot. Wenn man das Grundmuster der Alge nimmt, dann sind das keine Brüche, sondern ganz schöne Konstrukte.»
Klar, dass beim Algenmenschen die Aufarbeitung der Vergangenheit nicht so viel zählt. Es entsteht immer Neues und weniger eins aus dem anderen, horizontal statt vertikal. Zugehörigkeit braucht keine Wurzeln.
(Bild: Karen Köhler)
Auch das Erinnern spielt eine andere Rolle. Etwa in der Kurzgeschichtensammlung von Karen Köhler mit dem Titel «Wir haben Raketen geangelt» (sie wird an der BuchBasel zu hören sein). Alle Figuren bei Köhler haben mit ihrer Vergangenheit zu tun, jedoch mit der unmittelbaren: Meist hat ihr Partner sie verlassen oder ist gestorben. Eine der Figuren ist ihrer Erinnerung so stark ausgesetzt, dass sie bei jedem Gedanken an ihren Ex einen Strich in ihr Notizheft macht. Das ist kein Zustand, das ist mal klar. Köhlers Figuren müssen eher von der Erinnerung loskommen, um in die Gegenwart zu finden, als mit ihr in Kontakt zu treten.
Auch seltsam: die Vergangenheitslosen
Oder aber, die Erinnerung spielt gar keine Rolle. Was auch wieder seltsam ist, aber für viele aus der Generation der jetzt 30-Jährigen zutreffen dürfte. Unsere Eltern haben so viele Hürden aus dem Weg geräumt (scheint es zumindest), dass wir immer noch am Rausfinden sind, wofür und wogegen wir sein wollen. Das kann in die gedankliche Überbewertung des gegenwärtigen Zustandes führen, bei der den Protagonisten selbst am unwohlsten ist. Der Nicht-Held von Heinz Helles Debütroman «Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin» ist so ein Fall (nominiert für den Schweizer Buchpreis). Dieser Ich-Erzähler ist so lasch, dass er sich nur sein ungewähltes Lebensmotto vorsagen kann: Ich denke, also bin ich nicht. Er studiert in New York Philosophie und ist derart in seinen Minineurosen gefangen, dass die Beziehung zu seiner feinen Freundin vor die Hunde geht.
Das klingt lahm, ergibt aber ein ziemlich gutes Buch. Lahm ist der Charakter. Und wahrscheinlich finden sich die meisten Dreissiger auf jeder zweiten Seite wieder und lesen das Buch in zwei Stunden durch. Dreissiger, die nur mühsam ein Bein auf den Boden kriegen. Obwohl sie keine Vergangenheit haben, an der sie sich abarbeiten müssen. Oder gerade deswegen.
Lutz Seilers erster Roman «Kruso» spielt im Sommer 1989. Ist es der lang herbeigerufene Wenderoman? Nein, sagt Seiler in Gesprächen, eher dient das Setting der Geschichte, die zu grossen Teilen erfunden ist.
Nobelpreis
Entgegen den Erwartungen ging der grösste Literaturpreis nicht an den Autor einer Literatur, die sich mit aktuellen politischen Krisen beschäftigt – einer Literatur, die auch an der BuchBasel eine zentrale Rolle spielen wird. Patrick Modiano war ausserhalb Frankreichs kaum jemandem bekannt. Sein Ressort ist nicht die öffentliche Debatte, sondern das Aufspüren von Spuren, die in die Pariser Vergangenheit führen.
Man Booker Prize
Die wichtigste Auszeichnung im englischen Sprachraum, der Man Booker Prize, ging an Richard Flanagan für sein Buch «The Narrow Road to the Deep North». Es ist von den Erlebnissen seines Vaters während des Zweiten Weltkriegs inspiriert.
Schweizer Buchpreis
Die Verleihung des diesjährigen Preises an der BuchBasel steht noch aus (9. November). Vielleicht geht der Preis an die Schwyzer Autorin Gertrud Leutenegger, die schon ganz nah am Deutschen Buchpreis war. Die Ich-Erzählerin ihres Romans «Panischer Frühling» flaniert während eines Sabbaticals durch London und lernt dort einen jungen Zeitungsverkäufer kennen, zu dem es sie wie magisch immer wieder hinzieht. Denn etwas ist in ihrer Begegnung, das ihnen ermöglicht, intime Kindheitserinnerungen auszutauschen – und die Erzählerin erwacht zu neuem Leben. (Die Nominierten)