Schwere Salven und weisse Streifen am Horizont

Einen Tag nach dem EM-Final trat Jack White im legendären Pariser Olympia auf und führte seine Hymne «Seven Nation Army» vom Fussballstadion in den Konzertsaal zurück. Wer hätte gedacht, dass er dieses Lied noch live spielen würde? Nicht die einzige Überraschung auf seiner aktuellen Tour.

Schüttelt sein Haar und trägt noch immer gerne Streifen: Jack White, hier bei seinem Auftritt in Amsterdam (25. Juni). (Bild: Keystone)

Einen Tag nach dem EM-Final trat Jack White im legendären Pariser Olympia auf und führte seine Hymne «Seven Nation Army» vom Fussballstadion in den Konzertsaal zurück. Wer hätte gedacht, dass er dieses Lied noch live spielen würde? Nicht die einzige Überraschung auf seiner aktuellen Tour.

Jack White macht einen Bogen um die Schweiz. Leider. Und: zu unserer Überraschung, hätten wir doch damit gerechnet, dass ihn die Tour zu seinem ersten Soloalbum «Blunderbuss» auch nach Montreux führen würde. Denn hier am Jazz Festival präsentierte er schon seine letzten beiden Musikprojekte , The Raconteurs (2008) und The Dead Weather (2010). Beide Konzerte liessen keine Wünsche offen, White überzeugte als Multiinstrumentalist (bei The Dead Weather spielte er u.a. Schlagzeug) und begeisterte in seiner Rolle als Kollektivmitglied. Und dabei waren das für den US-Amerikaner doch eigentlich nur Nebenprojekte, mit denen er seine freie Zeit füllte und seine Lust auf Live-Auftritte befriedigte. Denn Konzerttourneen waren mit seiner Hauptformation, den White Stripes, nicht mehr möglich, seit seine Partnerin Meg White an Angstzuständen litt. Einer der Gründe, der im 15. Jahr zur Auflösung des Duos führte – jenes Duos, das kargen Blues, rumpligen Rock und zarten Folk aus der Vergessenheit geholt, ja, aus der Garage geführt und bei einer neuen Generation Musikfans salonfähig gemacht hatte. 

Ohrenbetäubender Auftakt

Ein Jahr nach der Auflösung meldete sich White zunächst mit seinem ersten Soloalbum zurück. Und nun auch mit einer Tournee, die ihn nach Europa und uns nach Paris führte: In den legendären Konzertsaal Olympia, ein Haus mit grosser Geschichte und noch grösseren roten Samtvorhängen. Wie geschaffen für einen Jack White, der mit «Blunderbuss» (übersetzt: Donnerbüchse) sich selber treu bleibt und sich unüberhörbar von der Musik längst vergangener Tage inspirieren lässt. In Detroit aufgewachsen, lebt er seit 2005 in Nashville, Tennessee. Das musikalische Erbe beider Städte dringt in seinen eigenen Songs durch, sei es der Garagenrock, die raue Kraft der Stooges oder die Country- und Bluesvergangenheit des amerikanischen Südens.

Bereits mit dem ersten Song machte der 36-Jährige am Montagabend klar, dass er dem Publikum im Olympia auch einen Streifzug durch seine eigene Musikgeschichte servieren würde. Seine fünfköpfige Begleitband kreiert eine Klangwolke, die zu einem Donnergrollen anschwellt, während Jack White im Halbdunkel der Bühne seine E-Gitarre einstöpselt, dabei offenbar selbst unter Strom steht und mit einem Luftsprung schwere Gitarrensalven abschiesst. Ein Rockgewitter entlädt sich, ohrenbetäubend laut spielt die Band auf, ohrenbetäubend laut jubelt das Publikum, das den Song sogleich erkennt: Black Math erschien 2003 auf «Elephant», dem erfolgreichsten Album der White Stripes. Wer hätte gedacht, dass er ein Solokonzert gleich mit einem solchen alten Klassiker eröffnen würde?

Eigenwilliger Rockstar

Dazu muss man wissen: Jack White ist ein wunderbar eigenwilliger Rockstar. Einer, der sich aus Überzeugung standhaft weigert, sich von den Gepflogenheiten des Musik-Business vereinnahmen zu lassen (so lehnte er etwa Millionenangebote grosser Plattenfirmen stets ab, weil ihm nichts wichtiger sei als seine künstlerische Freiheit, wie er einmal sagte). Ein Mann mit Hang zu klaren Konzepten (die White Stripes spielten nur zu zweit, ohne Bass, Reduktion aufs Maximum, Rumpelrock als Markenzeichen. Genial.)

Zwei Begleitbands

Auch im Jahr 2012 hat White ein überraschendes Konzept zur Hand. So begleiten ihn zwei Formationen auf Tour: Eine weibliche Begleitband (Peacocks) und eine männliche (Los Buzzardos) reisen mit ihm jeden Tag mit, aber nur eine steht am Abend auf der Bühne.  Erst kurz vor dem Soundcheck entscheidet Jack White jeweils, mit welcher Formation er am Abend auftreten wird. Eine herrliche Idee.

Wir erleben die Männerband, die bei den vorherigen Konzerten in Europa weniger oft zum Zug kam. Eine mögliche Erklärung dafür, weshalb die Gruppe an diesem 2. Juli so hart rockt: Die Männer um Jack White, fünf Musiker aus Brooklyn (New York), Detroit und Nashville sind hungrig – da hat sich etwas angestaut. Fast ein bisschen zu übermütig, wie sie sich durch die erste Hälfte des Konzertes spielen (der Schlagzeuger etwa übertreibt es mit seiner Spielfreude und seinem Übermass an Fill-ins), fast ein bisschen zu laut auch das Ganze, wodurch die Lap-Steel-Gitarre, die im Hintergrund mitsingt, über weite Strecken untergeht. Bedauerlich. Erfreulich hingegen die Energie und die Entfesselung. Da scheint sich auch bei White selber etwas aufgestaut zu haben, so lässt er bereits auf den Opener einen weiteren Song der White Stripes (Dead Leaves and the Dirty Ground) folgen. Zur Freude der Fans, die Texte mitsingen und den Holzboden des Olympia auf furchteinflössende Weise in Schwingung versetzen.

Schwarz und Weiss

Bei Jack White ist stets auch das visuelle Konzept bestechend. Und bestechend einfach. Die Farben Schwarz und Weiss dominieren auf der Bühne, Scheinwerfer werfen weisse Streifen in den Saal (die White Stripes flackern damit nicht nur musikalisch auf), der kleine Unterschied zu seinem früheren Langzeitprojekt ist das fehlende Rot – und die Tatsache, dass Jack White eine virtuose Band an seiner Seite weiss, die den Rumpelrock-Charme der Originalversionen gar nicht erst zu imitieren versucht, sondern den kargen Riffrock mit grosser Spielfreude und voller Wucht interpretiert. Whites Songs zehren noch immer von den Einflüssen der 60er- und 70er-Jahre, dem Blues, Garagenrock und Countryrock, werden im neuen Kollektiv aber um psychedelische Einflüsse und ausufernde Instrumentalpassagen erweitert. Dabei springt der Bandleader über die Bühne, treibt seine Musiker an und lässt sich im Gegenzug von ihnen anfeuern: Wunderbar, diesem Austausch beizuwohnen, herrlich auch, seinem Gesang zuzuhören, der noch stärker als früher an Robert Plant (Led Zeppelin) erinnert. Und zu alldem mitreissend, wie Jack White nebst prächtigen neuen Songs (ein Highlight: «Weep Themselves to Sleep») nicht nur seinen Fundus an White-Stripes-Songs plündert (dies übrigens respektvoll), sondern auch Lieder der Raconteurs und Dead Weather ins Set einbaut.

Nach 90 Minuten schliesst er den Kreis, indem er ein weiteres Lied des «Elephant»-Albums anstimmt. Vier Töne auf der Gitarre, die mittlerweile an jedem sportlichen Grossanlass vom Publikum gegrölt werden (nur als Beispiel: ein Public Viewing in Hannover): «7 Nation Army», die grösste Hymne der White Stripes. Offenbar scheut sich Jack White nicht, dieses Lied von den Fussballstadien wieder in die Konzertsäle zurückzuführen. Und bleibt gerade dadurch unberechenbar, denn wer hätte bei einem Künstler wie ihm schon erwartet, dass er diese Stadionhymne plötzlich wieder ins Konzertprogramm aufnimmt?

Er sei «der coolste, sonderbarste und klugste Rockstar unserer Zeit», schrieb die New York Times im April. Das bestätigt er mit seiner aktuellen Tour. Wer es verpasst hat, kann sich hier ein Bild davon machen. Wer sehen und hören möchte, wie ein Konzert mit der Frauenband The Peacocks klingen dürfte, der erhält hier einen Eindruck. Ziemlich stark, nicht wahr? Wir überlegen uns jedenfalls glatt, heute Abend nochmals zum Olympia zu schlendern – in der Hoffnung, ein günstiges Ticket zu ergattern und ihn womöglich bei seinem zweiten Pariser Konzert mit der Frauenband live zu erleben. Doch ob diese spielen wird, das weiss im Moment nur Jack White.

Quellen

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