So reizend hintersinnig wurde die Welt sonst nie erklärt

Sie ist hinreissend und legendär zugleich: Mit einer Werkserie von mehreren Hundert kleinen Skulpturen aus ungebranntem Ton erklärt das Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss die Welt und schafft damit im wahrsten Sinne des Werktitels «Plötzlich diese Übersicht».

«Cervelat» ist ein Teil der mehrhundertteiligen Erklärung der Welt des Künstlerduos Peter Fischli & David Weiss.

(Bild: Karen Gerig ©, Zürich)

Sie ist hinreissend und legendär zugleich: Mit einer Werkserie von mehreren Hundert kleinen Skulpturen aus ungebranntem Ton erklärt das Schweizer Künstlerduo Fischli/Weiss die Welt und schafft damit im wahrsten Sinne des Werktitels «Plötzlich diese Übersicht».

Was ist der kleinste gemeinsame Nenner einer grillierfertig aufgeschnittenen Cervelat, der Schlacht von Morgarten, der Zeugung von Albert Einstein und dem geruhsamen Leben Adams, bevor Eva in sein Leben schneite? Es ist das Sein schlechthin oder «Die Welt, in der wir leben». So lautete der ursprüngliche Titel der Werkserie von Peter Fischli (*1952) und David Weiss (1946–2012), die schliesslich den Namen «Plötzlich diese Übersicht» erhielt und zur Ikone der Gegenwartskunst wurde. 

Wer das Glück hat, in dieses einmalige Universum einzutauchen, das von 1981 bis zum Tod von David Weiss 2012 auf rund 350 Einzelstücke anwuchs, ist unweigerlich verloren. Zuletzt war dies 2015 im Schaulager möglich, während der Werkschau der Emanuel Hoffmann-Stiftung mit dem Titel «Future Present». In der aktuellen Ausstellung «Alexander Calder & Fischli/Weiss» in der Fondation Beyeler ist nur gerade ein einziges Stück zu sehen, wenn auch ein besonders reizendes: «Mausi hat hoch».

Erklärungen statt Fragestellungen

Es soll hier nun niemand eine auch nur einigermassen objektiv-ausgewogene Beschreibung von «Plötzlich diese Übersicht» erwarten. Denn der Schreibende ist Fan der Werkgruppe, seit er sie im Jahr 2000 zum ersten Mal im Museum für Gegenwartskunst gesehen oder vielmehr erlebt hat. Und er kann sich, wie man das als Fan so empfindet, gar nicht vorstellen, dass sich jemand nicht sogleich in diese Werkgruppe verliebt.

Ausserordentlich ist diese Stückserie an zeitgenössischer Kunst, dass sie der Sperrigkeit und Innerlichkeit des zeitgenössischen Kunstkanons der 1980er- und 1990er-Jahre eine unmittelbare Zugänglichkeit gegenüberstellt. Es ist eine sehr persönlich gefärbte Enzyklopädie aus kleinen Welten, die als Erstes einmal durch ihre Detailverliebtheit besticht. Und die schliesslich mit hintersinnigem Humor wundervoll verschrobene, aber auch aufschlussreiche Geschichten erzählt, die einen sogleich in ihren Bann ziehen.

Von Mick Jagger bis «Bobeli»

Eine ausgesprochen wichtige Rolle spielen dabei die Titel, die das Künstlerduo den Einzelstücken gegeben hat. Sie können etwas banal sein, wie zum Beispiel «Frau auf Sofa» bei einer Plasik, die eben dieses darstellt. Sehr oft sind es aber herrlich absurde Gleichnisse. Etwa bei der Beschreibung einer kleinen Figur, die steif in einem Bett liegt: «Spock ist etwas traurig, dass er keine Gefühle haben kann», heisst es da. Oder bei der Szene, die zwei Musiker beim gemächlichen Gang durch eine Strasse zeigt: «Mick Jagger und Brian Jones befriedigt auf dem Heimweg, nachdem sie I Can’t Get No Satisfaction komponiert haben.»



Ein Stück Fussballgeschichte.

Ein Stück Fussballgeschichte. (Bild: Keystone / Georgios Kefalas ©ProLitteris, Zürich)

Fischli/Weiss hatten auch keinerlei Hemmungen, süsse Szenerien zu schaffen. Etwa zwei fröhliche Vögelchen, die als «Bibeli und Bobeli im Frühling» beschrieben werden. Oder erstarrte Momente der Welt- oder Sportgeschichte. Zu sehen sind etwa ein dramatischer Moment auf dem Fussballplatz: «Kurz vor dem Entscheidungstor im Weltmeisterschaftsfinal Deutschland gegen Italien II». Oder die oft dargestellte Szene während der Schlacht bei Morgarten mit den auf die Habsburger Ritter herabrollenden Baumstämmen und Felsbrocken.

Fragile Weltsicht

Peter Fischli und David Weiss beliessen die Ton-Figuren und -Szenen allesamt in ungebranntem Zustand. Dies ist eine grosse Herausforderung an die Kuratoren, denn die Skulpturen sind dadurch ausgesprochen fragil. Das mag ein Grund sein, warum die Stücke, die sich im Besitz der Emanuel Hoffmann-Stiftung befinden, nicht dauerhaft im Museum zu sehen sind.

Das ist eigentlich bedauerlich. Aber umso mehr kann man sich freuen, wenn Stücke aus «Plötzlich diese Übersicht» wieder auftauchen. Und wenn es auch nur ein einziges ist, wie aktuell in der Fondation Beyeler. Für eingefleischte Fans bietet das 2015 von der Laurenz-Stiftung/Schaulager herausgegebene Fotobuch zum Werk eine kleine Überbrückungshilfe zwischen den Ausstellungen.
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Peter Fischli & David Weiss: «Plötzlich diese Übersicht»; herausgegeben von der Laurenz-Stiftung, Schaulager

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