Bei dieser Reise habe ich mir wenig Mühe gegeben, die üblichen Sehenswürdigkeiten zu besuchen: Den Eiffelturm habe ich vornehmlich aus dem Taxifenster gesehen. Den Louvre mit seiner imposanten Glaspyramide nur von aussen. Und die Champs-Élysées sowie den Arc de Triomphe habe ich, ausser für ein schnelles Selfie, gemieden.
Hotspot für Street Art
Stattdessen bin ich diesmal in das 13. Arrondissement gefahren. Einst tristes Wohngebiet, lockt es heute mit faszinierender Strassenkunst. Geoffroy Jossaume, ein junger Galerist, hat mich auf die Fährte gesetzt. Im 13. hat er die «gca gallery» gegründet und fördert gemeinsam mit ein paar anderen Galeristen öffentliche Kunst. «Der Vorstadtbezirk ist dadurch in den letzten Jahren zum Hotspot für Street-Art-Enthusiasten geworden», sagt er.
Tatsächlich avancierte er zum Freilichtmuseum. Invader, Inti, Conor Harrington, Maye, Shepard Fairey, Faile, David de la Mano, Jana&Js, B-Toy, D*Face, Seth und viele andere in der Szene mittlerweile international bekannte Namen haben grosse kahle Gebäudewände mit ihren Malereien erobert. Entlang der Rue Jeanne d’Arc und des Boulevard Vincent Auriol, in der Nähe der Metrostation Nationale, sind Dutzende von Kunstwerken zu sehen. Cool, knallig, schrill.
Ich starte an der Kreuzung Avenue de France und Boulevard Vincent Auriol. Ausgestattet mit guten Wanderschuhen und einem Stadtplan, in dem die Kunstwerke markiert sind, flaniere ich durch die Strassen. Es wird ein ausgiebiger Spaziergang, eine beeindruckende Begegnung mit einer Kunst, die Dimensionen sprengt: Es gibt Bilder, die strecken sich 20 Meter in die Höhe und acht in die Breite. Faszinierende Geschichten, die ich genau betrachte. Ich will verstehen, was sie mir sagen wollen.
Ein Gemälde ist von Invader. Der Franzose ist seit Ende der 1990er-Jahre dafür bekannt, dass er in Städte «eindringt» und mit kleinen Mosaiken, die an «Space Invaders» aus Videospielen der 1970er- bis 1980er-Jahre erinnern sollen, die Zwischenräume des Stadtraums gestaltet. Seine «Invasionen» sind mittlerweile in New York, Los Angeles, Hongkong, Berlin, São Paulo, Miami, Melbourne – und in Frankreich (Paris, Lyon, Marseille und Nantes) zu sehen. Nun stehe ich vor seiner Anspielung auf die US-amerikanische Serie «Dr. House».
Ein riesiges Wandbild des chilenischen Künstlers Inti heisst «La Madre Secular 2». Er malt farbenfroh und verfremdet gerne. Zum Beispiel trägt seine Muttergottes einen Patronengurt oder, auf diesem Bild, Totenköpfe als Halskette. Seine Arbeit ist beeinflusst von der mexikanischen Street-Art-Szene und den lateinamerikanischen wändefüllenden «Murales».
Entlang der Hauptstrasse entdecke ich auch kleinere Werke: «Étreinte et lutte» von Conor Harrington, «Étang de Thau» von Maye, «Rise Above Rebel» von Shepard Fairey, «Et j’ai retenu mon souffle» von Faile, «Untitled» von David de la Mano, «Photographes de la rue Jeanne d’Arc» von Jana&Js und «Evelyn Nesbit» von B-Toy. Jedes Wandbild öffnet mir eine Tür in eine andere Welt.
Auf meiner Route sind auch Seitenstrassen markiert. In einer stehe ich staunend vor einem zwölfstöckigen Wandbild: «Love Won’t Tear Us Apart» von D*Face. Es zeigt einen Zombie, der eine blonde Frau küsst, die sich ihm hingibt. Dean Stockton alias D*Face ist ein englischer Künstler. Seine durch Pop-Art geprägte Arbeit erinnert an Roy Lichtenstein, wirkt aber provokativer.
Um die Ecke finde ich das Werk des irischen Künstlers Seth: Ein Junge starrt eine spiralförmige Farbwelle an. Seth will uns anregen, unsere Fantasie zu nutzen und neugierig zu bleiben, offen für das Überraschende. Das Bild hat keinen Titel (Untitled).
Nach zweieinhalb Stunden beende ich meinen Spaziergang. Ich bin müde und erschöpft, aber mein Kopf ist voller inspirierter Bilder.
Und zum Abschluss meiner Parisreise kann ich mir einen Schnappschuss des Eiffelturms dann doch nicht verkneifen.