Heftige Diskussionen erschüttern die deutsche Theaterlandschaft. Vordergründig geht es um die künstlerische Zukunft der Berliner Volksbühne. Unter der Oberfläche brodelt die Grundsatzfrage, wie es generell um das Befinden des deutschsprachigen Stadttheaters steht – ein Thema, das auch in Basel bewegt.
Ein Gespenst geht um in Berlin. In den Augen der erschütterten Beobachter ist es ein sehr böses, weil neoliberales Gespenst, das die guten altlinken Geister der Berliner Volksbühne Ost vertreiben will.
Konkret geht es um die Nachfolge von Frank Castorf, der die Volksbühne fast 25 Jahre geleitet und sie zum Inbegriff eines an- und aufregenden, weil freien bühnenkünstlerischen Denkens und Wirkens gemacht hat. Castorf soll abtreten und 2017 vom belgischen Kunstkurator und derzeitigen Direktor der Tate Modern in London, Chris Dercon, ersetzt werden. Mit der neuen Leitung sollen die Schranken zwischen Theater, Tanz, bildender Kunst und Film fallen. Das klingt mehr nach Produktionshaus als nach Stadttheater.
In der und um die Volksbühne herum herrscht deshalb Alarmstufe rot. «Dieser Wechsel steht für historische Nivellierung und Schleifung von Identität», heisst es in einem offenen Brief der Volksbühne-Belegschaft. «Die künstlerische Verarbeitung gesellschaftlicher Konflikte wird zugunsten einer global verbreiteten Konsenskultur mit einheitlichen Darstellungs- und Verkaufsmustern verdrängt.»
«Verheerende Signalwirkung»
Die besorgten Theaterleute sehen nicht nur die Volksbühne in Gefahr: «Eine verheerende Signalwirkung für die gesamte deutsche Stadttheaterlandschaft wäre die Folge», mahnen sie mit Blick auf ihre neue Leitung. Es scheint sich also um ein Gespenst zu handeln, das in halb Europa versucht, das gute alte deutschsprachige Stadttheater gegen die international kompatiblen Produktionshäuser auszuspielen.
Es ist eine Gefahr, die nicht neu ist. Klaus Zehelein, der Präsident des deutschen Bühnenvereins, plädierte bereits 2013 dafür, diese Theaterlandschaft als immaterielles Weltkulturerbe der Unesco zu schützen – «völlig zurecht», wie der neue Basler Intendant Andreas Beck meint.
Brüchiges bildungsbürgerliches Fundament
Das Stadttheater mit seinem Repertoire-Programm und seinen festen Ensembles ist eine Tradition mit einem bildungsbürgerlichen Fundament. Und dieses Fundament ist im Zuge der auch kulturellen Globalisierung brüchig geworden. Neben den institutionalisierten Häusern begann sich ab den 1970er-Jahren eine freie Szene zu etablieren und mit ihr auch alternative Kulturzentren und Produktionshäuser, wie die Kaserne Basel eines ist. Zudem öffneten Festivals den Blick auf neue und exotische Theaterformen.
Das hatte Auswirkungen auf den Publikumszuspruch. 1980, im Gründungsjahr der Kulturwerkstatt Kaserne, verzeichnete das Dreispartenhaus am Steinenberg (mit der damaligen Komödie an der Steinenvorstadt) noch gegen 300’000 Zuschauer pro Jahr. In der vergangenen Saison 2015/16 waren es noch rund 170’000 – allerdings wegen der Sanierung des Hauses verteilt auf eine verkürzte Spielzeit. Die Kaserne Basel verzeichnet im Vergleich dazu rund 60’000 Besucher pro Jahr, rund 25’000 davon in den Sparten Theater und Tanz.
Diese Entwicklung gibt in Basel Stimmen Auftrieb, die das Nebeneinander von institutionalisiertem und freiem Theaterbetrieb rein schon aus finanziellen, aber auch aus inhaltlichen Gründen infrage stellen. So wurde auch in Theaterkreisen bereits mehrmals über eine Auflösung des festen Ballettensembles am Theater Basel diskutiert. Und auf der anderen Seite machten sich Jungpolitiker aus dem Lager von «Kulturstadt Jetzt» vor ein paar Jahren konkret für eine Ausgliederung des Theater- und Tanzbetriebs aus der Kaserne stark.
Zeit für internationale Theater-Hybride?
Ist es also an der Zeit, dass die alten Theater umdenken und sich international als globale Produktionshäuser öffnen? Einer, der seine Fühler in diese Richtung ausstreckt, ist Matthias Lilienthal. Der deutsche Theatermann hat sein Handwerk einst am Theater Basel unter Frank Baumbauer gelernt. Dann ging er als Castorfs Chefdramaturg an die Berliner Volksbühne, leitete mehrere Jahre das Produktionshaus HAU in Berlin und übernahm 2015 die Direktion der traditionsreichen Münchner Kammerspiele.
Lilienthal hat das bürgerliche Münchner Schauspielhaus für die freie Szene und Ästhetiken der internationalen freien Szene geöffnet. «Zum Entzücken und Erschaudern des Publikums», wie die «Süddeutsche Zeitung» schreibt, treten in seinem Haus grosse Namen der freien Szene wie Gob Squad, She She Pop oder Rimini Protokoll in Erscheinung, die zum Teil mit den eigenen Leuten, aber auch mit dem Ensemble zusammenarbeiten.
Und er holt bekannte Regisseure aus fremden Kulturen ans Haus wie den Iraner Amir Reza Koohestani oder den Japaner Toshiki Okada – Theaterleute, die alle auch schon in Basel zu erleben waren, hier aber ausschliesslich in der Kaserne Basel oder an Festivals. In den Kammerspielen hingegen kommt es nicht selten vor, dass Arabisch, Farsi oder Englisch gesprochen wird.
«Ihr im kleinen Basel habt die Kaserne, wir in München nicht.»
Lilienthal sieht sich aber selber nicht als jemand, der alles über den Haufen geworfen hat:
«Die Kammerspiele sind zu drei Vierteln ganz normales Stadttheater geblieben mit Repertoire und Ensemble, auf der Bühne wird Deutsch gesprochen, hinter der Bühne oft nicht. Wir holen auch Leute und Projekte ans Haus, die inhaltlich aufregend sind und die in der Stadt sonst nicht vorkommen. Ich bin an der Verbindung hybrider Theaterformen interessiert. Ihr im kleinen Basel habt die wunderbare Kaserne, München hat noch kein ähnlich aufgestelltes Produktionshaus.»
Lilienthal hat Erfolg damit. Die Kammerspiele sind nach wie vor gut besucht: «Wir haben zwar einen Teil der Abonnenten verloren, dafür viele Studenten als neue Zuschauer gewonnen», sagt er.
Die Münchner Kammerspiele spannen unter Lilienthal immer wieder mit der Kaserne Basel zusammen. Vor zwei Wochen erst war mit dem originell-verschrobenen Bühnenprojekt «Fux gewinnt» eine Koproduktion der beiden Häuser in Basel zu sehen.
In Basel kein Thema
Solche Koproduktionen oder gar ein Hybrid aus Stadtteater und Produktionshaus ist für die Theaterleute in Basel kein Thema. Man könne die verschiedenen Theater in Berlin, München und Basel nicht eins zu eins miteinander vergleichen, jedes habe seine eigene Geschichte, der es auch verpflichtet sei, meint Andreas Beck:
«Hier in Basel können und sollen wir nicht nur Neues schöpfen, sondern müssen auch bewahren. Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass im Publikum Mozarts ‹Zauberflöte› oder Shakespeares ‹Was ihr wollt› schon einmal gesehen wurde oder dem Publikum zu mehr als 50 Prozent bekannt wäre. Es ist zwar schön, wenn wir die Welt umarmen und viele neue internationale Künstlerinnen und Künstler und mit ihnen andere Sicht- und Spielweisen vorstellen dürfen. Aber so gerne wir das tun, so wichtig ist es zu zeigen, woher wir, also wir hier, kommen. Neben allen kosmopolitischen Gedanken, dürfen wir das Nachdenken über den vermeintlichen Klassiker oder das zu unrecht vergessene Werk, die Wiederentdeckung, sowie lokale oder nationale Stoffe und Mythen nicht vernachlässigen.»
Dass dieses Prinzip inhaltlich gut funktioniert und darüber hinaus auch international hohe Beachtung gewinnt, das hat das Basler Dreispartenhaus immer wieder bewiesen. Direktoren wie Werner Düggelin, Hans Hollmann, Frank Baumbauer und Stefan Bachmann haben von Basel aus stilbildende Impulse in den deutschsprachigen Theaterraum gebracht. Und mit Andreas Beck ist jemand am Ruder, der diese bedeutende Geschichte weiterschreibt.
Impulse aus der freien Szene auch in Basel
Und es ist keineswegs so, dass sich das Theater Basel der freien Szene gegenüber verschliesst. Mit Thom Luz hat sich Beck einen Hausregisseur geangelt, der in der freien Szene ebenso zu Hause ist wie am Stadttheater. Der einstige Basler Schauspielchef Stefan Bachmann kam ebenso aus der freien Szene wie Christoph Marthaler, der freier Theatermusiker war, bevor ihn der damals in Basel tätige Dramaturg Matthias Lilienthal ans Dreispartenhaus holte, wo er seine Weltkarriere startete.
Für Beck ist das heute eine Selbstverständlichkeit:
«Ich sehe keine Konkurrenz. Es ist alltäglich. Wenn zum Beispiel Thom Luz, der lange in der freien Szene arbeitete, nun einen Schritt hin zum Stadttheater macht. Auch umgekehrt übrigens. Es ist für Künstler wichtig, verschiedene Formate zu nutzen. Das darf man nicht gegeneinander ausspielen.»
Dieser Ansicht ist auch der angesprochene Grenzgänger Thom Luz. «Die Sehgewohnheiten des Publikums nähern sich an. Wenn etwas gut ist, überzeugt es ein Stadttheaterpublikum wie ein Publikum in der freien Szene», sagt er. Und:
«In der freien Szene ist vielleicht noch etwas mehr Experiment möglich. Dort schaut das Publikum vielleicht wohlwollender auf zum Beispiel einen tropfenden Wasserhahn und einen Tänzer, der im Takt des Tropfens aufzählt, an wie vielen Reihenhäusern er schon vorbeigegangen ist in seinem Leben, als am Stadttheater, wo einfach die Sehgewohnheiten noch etwas mehr auf klassischeres Sprechtheater eingestellt sind. Aber mich persönlich würde das nicht davon abhalten, den Wasserhahn und den Sprechtänzer auch am Stadttheater auf die Bühne einzuladen, wenn die Sache es verlangt.»
Zwei Institutionen, die sich ergänzen
Beck und Luz wollen dies aber explizit nicht als Plädoyer für eine Verschmelzung von Produktionshaus und Stadttheater verstehen. «Das sind zwei Institutionen, die sich bestens ergänzen», sagt Beck. «Die Kaserne muss und soll das machen, was wir nicht auch noch anbieten können.» Das Theater Basel biete das Fundament, um zu verstehen, was in der Kaserne gezeigt wird.
Auch Carena Schlewitt, unter deren Leitung die Kaserne Basel zu einem international beachteten und gut vernetzten Leuchtturm der Produktionshäuser wurde, spricht von einem fruchtbaren Nebeneinender:
«Stadttheater haben andere Aufgaben als Produktionshäuser. Ich war in Stockhausens ‹Donnerstag aus ‹Licht››, eine Produktion, die die freie Szene so nie stemmen könnte und für die das subventionierte Stadttheater der adäquate Produktionsort ist. In diesem Sinne sorgen sich Stadttheater um die ‹Theaterliteratur› im klassischen und modernen wie auch im gegenwärtigen Kontext, während die freie Szene mehr nach neuen Formen und Ästhetiken der Performing Arts sucht. Grob beschrieben war die freie Szene häufig Vorreiterin für neue Formen wie das Poptheater, das Medientheater, die Bespielung des Stadtraums oder die Wiederentdeckung des Dokumentartheaters in vielen Facetten. Die Art des Produzierens ist in den beiden Systemen anders, zum Beispiel unterscheidet sich die Ensemblearbeit an einem Haus von der freien Gruppenarbeit in einem Netzwerk verschiedener Koproduzenten und Gastpielhäuser.»
Schlewitts Verdienst ist es, massgeblich dazu beigetragen zu haben, dass sich in Basel quasi aus dem Nichts heraus eine spannende freie Theaterszene entwickeln konnte, die über die Grenzen hinaus wahrgenommen wird. Basler Theaterleute wie Boris Nikitin oder Anna-Sophie Mahler arbeiten inzwischen unter anderem auch an den Münchner Kammerspielen.
Erfolg als Verpflichtung
Der Erfolg der Kaserne Basel ist laut Schlewitt aber auch Verpflichtung:
«Die Basler Szene ist fest im Haus verankert. Wir sind oft die ersten Ansprechpartner für Ideen und Konzepte und bleiben auch im Produktionsprozess Gesprächspartner. Basler Künstler und Künstlerinnen treffen sich hier häufig bei Aufführungen von Kollegen. Der Austausch spielt eine grosse Rolle. Hier können Netzwerke entwickelt und genutzt werden: unter den Künstlern, aber auch unter den Veranstaltern anderer Häuser, mit denen wir zusammenarbeiten. Für die Kaserne Basel stellt sich nun die Frage, in welchem Umfang sie bei Gruppen, die sich etablieren und professionalisieren konnten, weiter als Mitproduzentin tätig sein kann. Und zweitens, inwieweit sie auch Residenz- und Probemöglichkeiten anzubieten hat. In dieser Hinsicht ist das Projekt des Umbaus des Kopfbaus mit dem geplanten Probenraum sehr wichtig.
Und flugs ist man bei der Politik, genauer bei der staatlichen Kulturförderung angelangt. Diese hat sich zumindest im Standortkanton Basel-Stadt in den letzten Jahren von der theaterfreundlichen Seite gezeigt – im Gegensatz zu den Zeiten vor der rot-grünen Regierungsmehrheit, als das Theater von einer Sparrunde in die nächste geschickt worden war.
Als 2011 für das Theater Basel die erhofften Zusatzgelder aus Baselland ausblieben, setzte sich der noch amtierende Regierungspräsident Guy Morin mit einem langfristigen Zusatzbeitrag aus der Basler Staatskasse durch. Und aktuell beantragt die Regierung für die Kaserne Basel eine Erhöhung der Subventionen um 500’000 Franken pro Jahr. Mit dieser Eröhung sollen die gestiegenen Anforderungen an den professionalisierten und internationalisierten Betrieb aufgefangen und «die aktive Rolle der Kaserne Basel als attraktiver und szenenaher Kulturort mit überregionaler Ausstrahlung gesichert und weiterentwickelt werden», begründet die Regierung ihren Antrag.
Basel kann und soll sich das Nebeneinander leisten
In der Politik stehen also letztlich steigende Kosten im Vordergrund: Mehr Geld für die Kaserne Basel, Geld für den Umbau des Kasernen-Hauptbaus und mittelfristig vielleicht sogar ein Ausgleich für wegfallende Beiträge aus dem Kanton Baselland, sollte dieser mit etwas Verspätung doch noch beschliessen, die Kulturvertragspauschale zu halbieren. Könnte sich da allenfalls ein Zusammenschluss von Kaserne und Theater Basel aus finanziellen Gründen abzeichnen?
Für Philippe Bischof, Leiter der Abteilung Kultur, steht dies ausser Frage. Auch inhaltliche Gründe sind für ihn kein Argument. Man könne die Volksbühne in Berlin und die Kammerspiele in München nicht mit Basel vergleichen, sagt er:
«Wir sind weit davon entfernt, die Institution des Stadttheaters in Basel in Frage zu stellen. Natürlich gehört es zur Aufgabe des Theaters, seine gesellschaftliche Relevanz immer wieder zu hinterfragen, aber das wird auch getan. In Basel hat sich das Nebeneinander von Kaserne und Stadttheater bestens bewährt. Die Kaserne Basel hat es geschafft, eine lokale Szene aufzubauen, die zu den besten im deutschsprachigen Raum gehört. Zudem sollen dort internationale Produktionen gezeigt werden, was auch geschieht. Und das Theater Basel zeichnet sich als Haus aus, das das Autorentheater auf innovative Art stärker pflegt und die Qualität des Ensembles massiv gesteigert hat. Das Angebot in Basel ist von einer bemerkenswerten Qualität – etwas, was sich die Kulturstadt leisten darf und soll.»
Ob die Basler Politik ebenfalls dieser Meinung ist, ist fraglich. Spätestens dann, wenn Baselland zu einem zweiten Mal dazu ansetzt, den Kulturvertrag mit Basel-Stadt zu kündigen, um die Beiträge aus der Kulturvertragspauschale kürzen zu können. Das Theater Basel ist mit Beitzrägen von 4,5 Millionen Franken pro Jahr mit Abstand der stärkste Nutzniesser. Um das heutige finanzielle Niveau halten zu können, müsste der Stadtkanton als viel zusätzliches Geld aufwerfen.