Vor einer Woche durfte sich Lara Stoll fünf Begriffe wünschen, die ihr Nachfolger in seine Sommergeschichte einbauen muss: «Dendrophilie, Mistgabel, Ketchup, Prinz Charles, Sprengsatz» – keine einfache Aufgabe für Sebastian 23. Doch der Bochumer Slampoet hat sie mit Bravour gelöst. Hier ist sein Sommertext für die TagesWoche: «Steinsaftsommer».
Ich habe das bis heute keinem erzählt.
Niemand kennt die Wahrheit über Onkel Jochen.
Aber sie werden mich bald holen und es drängt mich, diese Last mit Tinte zu fesseln und auf das Papier zu werfen. Nach dem Schreiben werde ich diesen Zettel verzehren. Wenn jemand das hier liest – er möge sich danach die Hände waschen. Und wenn möglich auch das Gehirn.
Dies ist die Geschichte, warum Sommersonne nicht nur meine Haut bräunt, sondern auch mein Gemüt trübt.
Es ist aber auch eine unangenehme Geschichte, was im Sommer 2001 vorgefallen ist, wenige Wochen vor dem elften September.
Die meisten Leute erinnern sich an meinen Onkel Jochen nur als «den Irren mit der Mistgabel», weil er selten mehr anhatte, als eben jene Mistgabel. Er mochte Kleidung nun mal nicht so gern und das Konzept von Hosen lehnte er insbesondere ab.
Was hingegen wenige wussten, ist, dass Onkel Jochen ein enthusiastischer Freizeit-Wissenschaftler war. In jahrelanger Forschungsarbeit erarbeitete er Methoden, wie man Steine auspressen könne. Sein Ziel war es, einen Fels zu quetschen wie eine Ketchup-Flasche, um an den wertvollen Steinsaft zu gelangen. Diesen wollte er dann als «Granini Granit» auf den Markt bringen.
Wenn ich ihn darauf ansprach, murmelte er immer nur etwas von «Mineralien» und starrte gedankenverloren durch das Fenster auf den Pflaumenbaum in unserem Innenhof. Alles in allem war mein Onkel Jochen für mich, der ich ja noch jung war, damals, eine schräge, aber dadurch umso liebenswertere Variation auf das Thema «Erwachsene».
Aber dann kam der Sommer 2001.
Ich saß mit Onkel Jochen auf einer zu kleinen Picknickdecke auf einem schmalen Stück Wiese zwischen zwei massiven Kastanienbäumen, kaum drei Schritte vom Ufer eines verwaisten Waldsees. Den Blick auf eine sehr weiße und ungeheuer oben stehende Wolke gerichtet, knabberte ich eine Reiswaffel, als ich aus dem Augenwinkel sah, wie Onkel Jochen seine Mistgabel küsste – mit Zunge!
Als ich mich weitäugig zu ihm drehte, ließ er die Mistgabel fallen wie einen überfälligen Sprengsatz und sagte:
«Finnland! Die richtige Antwort lautet Finnland! Doch Prinz Charles fährt einen John-Deere-Traktor 7810 mit Gewicht in der Fronthydraulik!»
Vermutlich sagte er das, um mich abzulenken, was auch funktionierte. Sofort dachte ich an eine Blockhütte und einen Elch, der einer Mistgabel einen Zungenkuss gab. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und konnte Onkel Jochen nicht mal mehr angucken. Also stand ich auf und behauptete, dass ich mal eben in die Büsche müsse.
Tatsächlich drückte meine Blase ein wenig, aber da ich kein Gebüsch fand, das nicht so aussah wie Onkel Jochen, der eine Mistgabel küsst, kam ich kurz darauf unverrichteter Dinge wieder zurück an unsere Picknickdecke.
Onkel Jochen saß nicht mehr auf der Decke. Die Mistgabel lag alleine dort und starrte die Wolke an. Meine Wolke! Doch wo war Jochen?
Zuerst sah ich Onkel Jochen nicht, oder ich wollte ihn nicht sehen oder ich wollte es nicht wahrhaben. Aber dann brannte sich eine Szene so fest in meine Netzhaut, dass ich sie Wochen und Monate danach noch sehen sollte, wann immer ich meine Augen schloss.
Onkel Jochen rieb sich an einer der beiden massiven Kastanien und raunte ihr zärtlich Liebkosungen ins Astloch.
«JOCHEN!» schrie ich unvermittelt.
Onkel Jochen hielt in der Bewegung inne. Nach einigen Sekunden, in denen die Stille wie ein Pendel am höchsten Punkt am Seeufer schwebte, sagte Onkel Jochen:
«Junge, das verstehst du nicht. Ich bin dendrophil.»
«Was hat denn das mit dem Zahnarzt zu tun?» fragte ich.
«Ich liebe Bäume», erläuterte Onkel Jochen, «mehr als jeder Förster.»
«Aha.»
Mein Onkel Jochen stand auf Bäume. Und vermutlich war die Mistgabel ein Fetisch, ein symbolhafter mobiler Baum für ihn. Kalte Bäche der Erkenntnis mündeten in den Strom meiner Gedanken.
Aber bevor einer von uns etwas sagen konnte, öffnete sich eines der Gebüsche und jemand kam heraus. Eine sehr kleine, haarige Person mit einer Brille auf und einem flachen Schwanz hintendran.
Herrgott, das war ja ein Biber, erkannte ich. Ein kurzsichtiger Biber!
Der Biber rannte auf Onkel Jochen zu und biss ihm ins Bein. Er musste ihn für einen Baum halten. Onkel Jochen und ich waren beide zu perplex um zu schreien – und schon wenige Minuten später hatte der Biber Onkel Jochen nicht nur gefällt, sondern bereits in seinen Damm an der Westseite des Sees verbaut.
Wie von einem Tanklastzug voll Appenzeller angefahren stand ich da. Erst als ich langsam wieder zu mir kam, überlegte ich, ob ich Hilfe holen sollte. Was sollte ich sagen? Wer würde mir glauben? Wie könnte man helfen?
Dann jedoch fiel mein Blick auf Onkel Jochen, wie er da zwischen all den Stämmen und Ästen eingezwirbelt im Damm feststeckte. Er lächelte. So glücklich hatte ich ihn noch nie gesehen. Er war angekommen und mir blieb nichts, als loszulassen, mich umzudrehen und meinen Weg zu gehen. Vielleicht komme ich ja auch irgendwann einmal an.
Als ich mich abwandte, spürte ich, wie ein Tropfen Steinsaft aus meinem Augenwinkel floss.
«Sommer-Slam» heisst unsere Serie für heisse Tage. Nachdem Lara Stoll mit ihrer herrlich absurden Geschichte «Der Tod wird mit Pesca-Frizz vollgespritzt» den Auftakt machte, durfte sich die Ostschweizerin fünf Begriffe wünschen: Ihr Nachfolger, Sebastian 23, musste einen Text verfassen, der die Begriffe «Dendrophilie, Mistgabel, Ketchup, Prinz Charles, Sprengsatz» enthält. Der Bochumer Slampoet gibt den Stab weiter, an den ebenso famosen Andy Strauss aus Münster. Was dieser aus den von Sebastian 23 gewünschten Begriffen
– Nacktbadestrand
– Entenmensch
– Klavier
– Himbeere
– DJ Bobo
basteln wird, darauf sind wir jetzt schon gespannt! Das Resultat präsentieren wir am 13. Juli.