Vor der Premiere seines Tanztheaters «Sand» in der Kaserne spricht der renommierte Regisseur Sebastian Nübling über die Rolle des «Jungen Theaters» als gesellschaftlichem Kampfschauplatz.
Vierzig Tonnen Sand, fünf Schauspieler aus dem Ensemble des Schauspielhauses Zürich, fünf Jugendliche aus den Theaterkursen des Jungen Theater Basel und die lokale Band James Legeres: Dies sind die Komponenten von «Sand», einer «Versuchsanordnung zum Thema Utopie», die der deutsche Regisseur Sebastian Nübling und der belgische Choreograph Ives Thuwis ab Mittwoch auf die Bühne der Basler Kaserne bringen.
Vor der Premiere traf TagesWoche-Filmkolumnist Hansjörg Betschart, der selber einst zu den Gründungsmitgliedern des Jungen Theaters gehörte, den renommierten Regisseur Nübling zu einem Gespräch über die Rolle des «Jungen Theater» als Kampfschauplatz und Sand im Getriebe des bürgerlichen Theaterapparats.
Sebastian Nübling, Sie arbeiten an grossen Häusern im deutschen Sprachraum, werden mit Ihren Arbeiten regelmässig nach Berlin eingeladen. Aber ich habe den Eindruck, immer wenn Sie in Basel arbeiten, laufen Sie zu Hochform auf. Gibt es Gründe?
Muss ich das mit der Hochform auch anders herum denken? (Lacht.)
Nicht, dass die anderen Arbeiten uninteressant wären. Aber es gibt eine spürbare Abenteuerlust in der Form, eine gewisse Freiheit im Inhalt, die Ihre Arbeit hier zu prägen scheint.
Es ist erst einmal ein gutes Zeichen für den Ort Junges Theater. Ich öffne mich hier immer auch für die neuen Leute, die frisch dazustossen. Das mache ich auch an grossen Häusern, aber hier auf andere Weise. Die Gründe sind von aussen sicher andere.
Ich kann sagen, wie es sich für mich anfühlt, in der Arbeit. Die Wirkung auf der Bühne ergibt sich erst daraus. Ich selbst würde da den Wirkungs-Vergleich nicht wagen. Erst einmal hat die Arbeitshaltung sehr viel mit der extrem schlanken Struktur zu tun. Im Kern sind das: Urs als Techniker, Uwe als Leiter und Dramaturg und ich. Diese überschaubare Struktur öffnet im Schaffen sehr viel Freiheit. Die Entscheidungswege sind kurz. Die Kunstgriffe sind rasch überprüfbar. Der sehr nahe Kontakt mit allen macht auch das Klima im Haus sehr persönlich, ohne damit familiär sein zu müssen. Arbeitszeiten von 10 bis 18 Uhr werden in der Regel durch ein gemeinsames Essen unterbrochen, das das Haus stellt. Das fördert eine Dynamik von Privatheit, wie man sie in Holland kennt, in England.
Die Ebenen des Kennenlernens sind dadurch enorm erweitert. Der Austauschtakt wird erhöht: Privates, Politisches, Künstlerische geraten rascher in Umlauf in der Truppe. Das füllt den Rucksack für die inhaltliche Reise, die man zusammen unternimmt. Man kann so etwas eher als atmosphärisch beschreiben.
Was wiederum in die Bühnenwirkung einfliesst. Die Aufführungen zeichnen sich durch eine hohe Authentizität aus. Selbst bei höchster Künstlichkeit der Form – wenn da in einer Aufführung die Elite-Schüler auf den Büchern stramm stehen, und chorisch brüllen – bleibt die inhaltliche Autorschaft erhalten.
Die Frage ist vielleicht, ob diese immer entsteht. In meiner Wahrnehmung gibt es auch Arbeiten, die das nicht schaffen.
Treffen Sie hier auf Experten? Ich meine, die Jugendlichen, die mitspielen, sind in der Regel nur für eine Produktion dabei und haben dann meist keine Ausbildung.
Ausser jene der Wirklichkeit; ja. Klar sind das junge Menschen ohne Theaterhandwerk. Aber mit ausgeprägten Auffassungen, Meinungen. Ihre Lebenshaltungen machen sie zu Experten. Hier fliessen die Beschreibungen der Jugendlichen auch immer in die Inszenierungsideen mit ein. Das war bei «Sand» etwa ganz stark. Klar stelle ich dabei einen handwerklichen Überblick zur Verfügung. Aber hier ist das immer ein intensiverer Austausch. Es gibt eine sehr viel gemeinsamere Entwicklung.
Wo fängt die an?
Meist ist bereits die Lektüre des Stückes eine Expertenaufgabe: Wir spielen die Stücke im Dialekt. Das heisst, die erste Auseinandersetzung lautet: Einen Text muss man in den Mund kriegen, übersetzen, ergänzen, ausbauen. Da tauschen wir Bilder aus, Erfahrungen, jeder hat da ein anderes Referenzsystem. Parallel dazu beginnt bereits die Auseinandersetzung mit der Szenen.
Das ist der eigentliche Lakmus-Test der Authentizität.
Es geht auch bei der szenischen Umsetzung darum, das zu erhalten, und hierfür eine Form zu finden. Im zweiten Schritt wird eine Atmospäre konstruiert.
Und was geschieht nun, wenn der Text – wie bei «Sand» – fehlt. Woher kommen die Themen?
In dieser Arbeit mit Ives Thuwis De Leuuw hat sich für mich ganz Neues ergeben. Er arbeitet als Choreograph mit einem System von Aufgaben und szenischen Aufträgen, die eine Materialsammlung für die Spielenden bedeuten. Ich habe meine Einfälle ebenfalls aufgelistet, um Dinge auszuprobieren. Assoziativ. Manchmal ergibt sich hierbei noch nicht einmal eine Verbindung zum Thema des Abends.
Wie gelingt es, die Themen zu bündeln?
Erst einmal ist da ein grosser Pool an Material zum Thema. Im zweiten Schritt holt man sich das Thema zurück. Wir hatten ursprünglich einen ganz anderen Ausgangspunkt, als das Resultat vermuten lässt. Das gemeinsame Bauen war ein Thema. Der soziale Vorgang, der durch die gemeinsame Schufterei in Gang gesetzt wird. Die Bedrohung des Resultates durch den Zerfall. Wir haben im Laufe der Arbeit immer mehr auch den kämpferischen Aspekt herausgeschält. Der Sand ist nass. Der Sand strengt an. Das wird von der Frage überlagert: Wie kriegt man überhaupt etwas zustande mit vierzehn Individuen? Welche Kämpfe bringt das mit sich? Welche Energie verpufft?
Im Sand?
Das schafft eine Reihe von Auseinandersetzungen um den Stoff.
Das macht Begegnungen vielschichtig?
Nicht nur das. Das erweitert auch den Stoff. Die Frage: Wie schafft man es, in so einer Gruppe einen gemeinschaftlichen Geist zu etablieren? Welche Individuen treffen aufeinander, wie schafft man es, sie in gemeinsamen Bildern zu finden? Da gibt es kein Rezept. Ich kann dir nur beschreiben, woran ich es festmachen kann, wenn die Ideen stimmen, oder die Bilder treffen: Wie kann man sich sozial einbringen: Das war unser Ausgangsgedanke: Sozialutopien. Biografien in Kommunen der Sechziger. Oder Künstlerkollektive. Aktionismus wie bei Otto Mühl.
Ist das Junge Theater denn eine Kommune auf Zeit?
Das könnte man über jede Theaterproduktion sagen.
Ljubimov hat es einmal eine Verschwörung genannt, die auch zu einem Attentat führen könnte.
Es ist immer eine verschworene Gemeinschaft, die soziale Dynamik entwickelt. Es sind junge Leute. Es sind dort dauernd Gruppenfindungen im Gang. Und die Kommune ist sozusagen das Gefäss.
Ich habe eine Reihe von Themen erkannt: Das Abrackern. Das Kopf in den Sand stecken. Der Drill. Dem Leitwolf folgen. Waren diese Elemente Teile der Ausgangsfrage?
Unsere Themen waren viel abstrakter gesetzt: Gründungsphase. Krise. Guru-Figuren, die Hegemonie anstreben. Der Zerfall in Einzelinteressen. Paarwirtschaft. Regelwerke, die ins Sektiererische münden, aber auch funktionieren können, wie bei Christiania in Kopenhagen. Wie entwickelt sich ein sozialer Prozess im Kleinen? Das war unser Ausgangsgedanke.
Und dazu kam die starke Behauptung des Materials: Sand, wohin das Auge blickt. Ein Beachvolleyballfeld.
Nur schwerer Sand. Nasser Sand. Er bietet Widerstand. Er macht alles beschwerlich und auch schmutzig. Jeder Schritt wird zu einer Anstrengung. Das wird zu einer grossen Metapher, schafft aber auch eine Gummizelle, wo die überflüssige Energie mal einfach losgelassen werden kann. Es gibt Unruhe. Es gibt Unzufriedenheit. Aber wie artikuliert sie sich, unter dem Aspekt der Anstrengung? Des Widerstandes?
Herauskam ein artifizielles Kunstprodukt. Tanz schafft mehr Abstraktion, aber auch Interpretationsspielraum. Text öffnet die Differenzen zwischen Deutungsfreiheit und Wirkungsabsicht.
Tanz muss man auch mögen. Viele finden Tanz vage. Aber auch Tanz am Theater ist immer Bild. Und das ist es, was mich am Theater interessiert: Bilder lesbar machen. Bilder lesen können.
Ist «Sand» ein Statement zu Basel?
Sand?
Ist Basel ein Sandkasten? Oder ist da eine Jugend ins Bild gesetzt, die eher Sand im Getriebe sein will?
Ich weiss nicht.
Oder eine Beachparty?
Das sicher nicht. Dafür ist der Sand zu schwer. Man kann sicher nicht allgemein darauf antworten. Ich würde die Frage auch immer sofort weitergeben. Zum Beispiel an Uwe Heinrich, der da eigentlich näher am Puls ist. Sicher, der Sand stellt auch einen unsicheren Boden dar, ein gefährdetes Fundament von Jugend. Daraus entsteht der Wunsch nach einem Aufbruch.
Sehen Sie den?
Ich weiss nicht richtig, wo ich ihn festmachen kann. In Spanien, in Griechenland ist der Druck grösser. Dort ist der Aufbruch schon im Ansatz sichtbar, auf den Strassen.
Sind die Theater dieser Unruhe auf der Spur?
Die Theater werden sich umstrukturieren müssen. Alle öffnen jetzt einen Jugendladen, versuchen neues Publikum anzulocken. Das ist immerhin ein Anzeichen dafür, dass die Notwendigkeit eingesehen wird.
Weil Jugendstücke die Kassenfüller sind.
Sicher auch. Aber da steckt auch eine Suche nach neuen Verbindungen von Bühne und Zuschauerraum dahinter.
Was dem Jungen Theater hervorragend glückt, dank dessen jungen Spielerinnen und Spieler.
Das Junge Theater spricht allerdings auch ein Publikum an, das Theater gar nicht besucht. Jugendliche, die sonst nie ins Theater gehen würden. Das macht die Reibung zum Vorneherein spannender. Dies ist einerseits über die Schulen, anderseits auch durch eine Verankerung in der Szene möglich. Was hier passiert, zwischen Bühne und Zuschauerraum, ist im bürgerlichen Theater kaum denkbar.
Lässt sich das in einer gewissen Weise auch auf einen grösseren Apparat übertragen?
Unsere Stoffe wohnen durch die Beteiligung des Publikums auf der Bühne auch immer im Publikum. Das schafft das bürgerliche Theater selten. Im Modell des Jungen Theaters gibt es zwischen den jugendlichen Spielern und den Zuschauern weniger Kunstanstrengung und Verwaltung. Da bin ich, der die Formen organisiert, Stoffe fordert und die Bilder baut. Da sind Autoren, obwohl die Spieler meist weitgehend selbst «autorisieren», auch wenn sie einem Text folgen. Das macht die soziale Relevanz aus.
Das ist vielleicht das, was dem bürgerlichen Theater fehlt. Dort werden Zielgruppen abgehakt.
Theater ist kaum mehr ein Diskussionsort.
Das gelingt aber dem Jungen Theater …
Nicht immer. Manchmal auch mehr. Auch der Auftrag, Jugendliche mit Spielformen vertraut zu machen, wird immer erweitert.
Würden Sie einen grossen Theaterbetrieb leiten wollen, und das für alle Produktionen erreichen können?
Nein. Ich wurde schon angefragt, aber ich finde das unendlich schwer. Da muss so viel stimmen: Die Chemie, die Zusammensetzung – das sind meist Glücksfälle, in denen angstfreies Arbeiten möglich ist. Das geht aber weit über das angstfreie Klima in einer einzelnen Produktion hinaus. Alle zeigen sich. Alle werden bewertet. Jede Kritik fordert von dir, als Mensch gerade zu stehen. Dieser Raum muss von einem Intendanten erst geschaffen werden. Da liegen in den Strukturen schon viele Ängste verborgen: Steile Hierarchien, kopflastige Verwaltungsstrukturen.
Liegen da nicht die Stoffe? Ohne, dass die Theater sich nur auf sich selbst beziehen: Die bürgerlichen Themen spiegeln sich in den Theaterapparaten wieder.
Klar.
Ich versuche mal, ein Theater, welches lebendig in einer Stadt wirken will, auf zwei Ihrer Kriterien zu reduzieren.
Zu wenig!
Ich weiss, aber man kann ja mal mit zwei von vielen Kriterien anfangen. Erstens: Angstfreiheit…
Im Prozess: Ja.
… die sich auch auf ein Publikum überträgt. Und zweites Kriterium: Soziale Relevanz?
In der Auswertung, ja, in der Stoffsuche, ja, das ist aber ein weites Feld. Es beginnt meist mit flachen Hierarchien: Ja. Und draussen muss eine gewisse soziale Unruhe herrschen. Im Theater der Mut, die Unruhe auch zu thematisieren.
Nicht nur aus Sicht der herrschenden Meinung.
Ja.
Ich weiss zum Beispiel nicht, wie die Menschen sich in Japan zur Zeit in den Theatern begegnen.
Wohl auch in der Auseinandersetzung mit Verdrängtem. Der Einbruch der Gewalt. Tod. Konkurrenz. Verdrängung. Alter. Irrationales. Wozu die Kunst ja auch immer Hand bietet …
… obschon sie Sozialrelevanz immer auch verrätselt. Wenn ein Publikum andauernd von der Bedeutung, die auf der Bühne zelebriert wird, erschlagen wird, schafft das auch Angst?
Richtig, ja. Sogar Misstrauen. Wie in der Politik.
Immerhin hat sich das Junge Theater Basel als ein Expertenmodell bewährt. Die meisten Produktionen der Anfänge waren – wie auch heute noch – mit Laien besetzt, die heute international tätig sind – man denke an Filmregisseur Dani Levy, an Schauspieler Ueli Jäggi, oder an Komponist Niki Reiser.
Das ist eben der besondere Ort Junges Theater.
Also eine Art Brutstätte?
Theater ist an sich eine Zeitverschwendungsmaschine.
Und wenn Jugendliche daran beteiligt sind, kommt noch die Differenz zur erwachsenen Weltsicht dazu.
Das ist genuin subversiv. Die Arbeit von Theaterleuten ist «antiökonomisch». Acht Stunden in dunkeln Räumen verbringen und Phantome entwickeln: das ist für eine rationalisierte Weltsicht ein Wertverlust. Nicht für die geistige Welt allerdings. Trotzdem weiss man nie, ob die Schatten, die man da auf der Probe entwickelt hat, bei Licht jemand interessieren. Von der Produktionsform her ist Theater immer etwas Antibürgerliches, weil es auf Profitmaximierung verzichtet, nicht auf Effektivität zielt. Aber trotzdem stellt es ein Labor für Utopien dar. Hier zerrt mich jede neue Truppe aus meinem individuellen Leben heraus, zwingt mich in eine intellektuelle Auseinandersetzung, in eine sinnliche Erfahrung, die sich auf das Publikum übertragen kann.
Klingt wie ein gutes Schlusswort.
«Sand» – ein Tanztheaterprojekt von Sebastian Nübling und Ives Thuwis-De Leeuw. Premiere: Mi, 18.01., 20 Uhr, Kaserne Basel. (Weitere Infos: hier)