Das Dokumentarstück «Enkelkinder» des Sakharov Center Theatre Project aus Moskau leistet wohl einen wichtigen Beitrag zur russischen Vergangenheitsbewältigung. Aber für alle, die nicht Russisch verstehen, bleibt beim textlastigen Abend mit Übertitel wenig Theatererlebnis übrig.
Theater besteht, so eine ganz simple Definition, aus Ton und Bild. Bewegtem Bild und Text, um etwas genauer zu sein. Manchmal gibt es auch nur ganz wenig oder keinen Text, manchmal sogar auch gar keinen artikulierten Ton, manchmal beschränkt sich die Bewegung auf ein Minimum oder auf gar nichts. Aber dann ist immer noch ein Mensch, sind Menschen in 3D auf der Bühne. Oder im Zuschauerraum oder im Dunkeln, wo sie nur noch zu erahnen sind. Theater ist darstellende, ist Live-Kunst. Manchmal versteht man es, manchmal weniger oder erst sehr viel später.
Ein grundsätzlicher Massstab für Qualität oder Nicht-Qualität ist aber keines dieser hier genannten Attribute. Doch je nachdem, was dargeboten wird, sollte man doch eines davon in Anspruch nehmen können. Ein «Sommernachtstraum» auf Finnisch kann ganz unterhaltsam und anregend sein, wenn Menschen auf der Bühne etwas darbieten, dem man auch als nicht Finnisch-Verstehender folgen kann. Ein statischer Textvortrag kann zum packenden Live-Erlebnis werden, wenn er in einer Sprache dargeboten wird, der man am Ort der Aufführung folgen kann. Hier in Basel wäre das Deutsch, Englisch oder Französisch, das, was einem halt in den Mund gelegt wurde oder man in der Schule gelernt hat. Die Leserinnen und Leser, die Russisch verstehen, brauchen sich jetzt nicht weiter mit diesen Ausführungen zu beschäftigen. Für sie kann der Abend hier nicht ausreichend beschrieben werden.
Vergangenheitsbewältigung auf Russisch
«Enkelkinder» des Sakharov Center Theatre Project aus Moskau ist ein Dokumentarstück, das auf Interviews mit Russinnen und Russen basiert, die Nachfahren von Funktionären aus der Stalin-Zeit sind. Inspiriert von der Arbeit des israelischen Psychologen Dan Bar-On, der in der 1980er-Jahren ein Buch mit Interviews mit Nazi-Tätern veröffentlichte, haben Michael Kalushski und Alexandra Poliwanowa ein an und für sich wichtiges Stück Vergangenheitsbewältigung an die Hand genommen. Ein sehr wichtiges wohl, weil «Die Last des Schweigens», so der Titel von Bar-Ons Buch, über die sowjetische Vergangenheit wohl noch um einiges schwerer wiegt als die über die deutsche Nazi-Vergangenheit.
Wir erfahren hier nun, dass die Väter, Mütter, Grossväter und Grossmütter in der Auseinandersetzung mit ihren Nachkommen ebenso «Meister des Schweigens» waren, wie es die Nazi-Eltern oder Grosseltern in Deutschland waren. Wir bekommen mit, dass sich die Datscha, die mit schönen Kindheitserinnerungen verbunden ist, im Rückblick aus der Erwachsenenperspektive als Arbeitslager erweist. Wir bekommen mitgeteilt, dass sich der sympathische Urgrossvater, wenn man nach ihm googelt, als Henker herausstellt, dass die Grossmutter in Sibirien ein Bordell unterhielt, der Vater, wie bei Solschenizyn nachzulesen ist, Chef der Moskauer Kriminalpolizei war und als Mitglied der Gerichtstroika Todesurteile unterschrieben hat. Wir werden Zeugen der Zweifel und der Verzweiflung der Nachkommen. Gibt es eine Erbschuld? Hat sich Grossvater als netter Gulag-Verwalter nicht auch eigentlich verdient gemacht?
Im grossen Kreis
Wir erfahren dies alles von ganz normalen Menschen, die, zu Beginn unbemerkt von den Zuschauerinnen und Zuschauern, im grossen einreihigen Kreis in der Reithalle Platz genommen haben. Wie wir haben sie zu Beginn eine Nummer und damit auch einen Stuhl im weiten Rund zugeteilt bekommen (der übrigens nicht leicht zu finden ist, weil die Zahlen nicht der Reihe nach folgen). Auf zwei Leinwänden verkündet ein Schriftzug: «Sie können sprechen, wenn Ihre Nummer leuchtet» – was dann auch so geschieht. In einem emotionsarmen lakonischen Ton tragen die vier live anwesenden und die vier auf zwei Videoscreens eingespielten Schauspielerinnen ihre Textpassagen vor.
Es ist ein Text, der von eindrücklichen Erfahrungen und Erlebnissen erzählt. Es ist aber ein Text, der akustisch natürlich nur für die verständlich ist, die Russisch verstehen. Alle anderen, und das dürfte die grosse Mehrheit gewesen sein, sind dazu verdammt, praktisch den ganzen, fast anderthalbstündigen Abend auf die beiden Leinwände zu starren, um den Text in der deutschen Übersetzung zu lesen. Und es ist, wie bei einem erzählerischen Dokumentarstück nicht anders zu erwarten ist, sehr viel Text. So viel, dass einem nur ab und zu ein kurzer Blick seitwärts oder in der Diagonale auf die sprechenden Mitsitzenden im grossen Kreis oder auf den Bildschirmen vergönnt ist. Denn in Blickrichtung auf die Leinwände befindet sich nur das leere Zentrum des grossen Sitzkreises. Es gibt keine Bühne und keine visuell wahrnehmbare Handlung, der man auch aus den lesenden Augenwinkeln heraus folgen könnte.
Kollektives Lesen
«Enkelkinder» mag ein packender Dokumentartheaterabend sein. In Moskau oder sonst irgendwo für Russinnen und Russen. In Basel wird es zum unverständlichen Hörspiel mit Untertiteln. Wie viel besser wäre es gewesen, die Veranstalter hätten auch hier, wie in den vergangenen zwei Theaterproduktionen im Rahmen von Culturescapes Moskau, statt auf eine geschriebene auf eine gesprochene Übersetzung gesetzt. Das war vielleicht in der kurzen Zeit, die Uraufführung fand wenige Tage vor dem Basler Gastspiel statt, nicht möglich. So aber wird man als Zuschauer und Zuschauerin zum reinen Leser oder zu reinen Leserin degradiert und letztlich um das Theatererlebnis betrogen.
- The Sakharov Centre Theatre Project: «Enkelkinder», Russisch mit deutschen Übertiteln. Weitere Vorstellung: Freitag, 30. November 2012, 20.00 Uhr