Die Fondation Beyeler zeigt eine Retrospektive des Werkes von Max Ernst. Rund 160 Werke warten auf die Besucher – die sich davon hoffentlich nicht überfordert fühlen.
Man könnte sich nun in Superlativen verlieren angesichts der Max Ernst-Ausstellung in der Fondation Beyeler, so wie das die Ausstellungsverantwortlichen tun – nicht zu Unrecht, übrigens. Denn rund 160 Werke dieses einzigartigen Künstlers für eine Ausstellung zusammenzutragen, das ist eine Leistung, und das Publikum wird sie zu würdigen wissen.
Fondation Beyeler, Riehen, 28. Mai bis 8. September 2013.
In der TagesWoche vom 24. Mai würdigt Guido Magnaguagno den Künstler:
«Im Zauberreich der Imagination».
Doch wie richtet man ein Menu aus derart vielen Gängen an, dass es noch schmeckt und nicht zu einem allzu vollen Bauch führt? In der Fondation Beyeler versucht man es auf dem wohl angebrachtesten Weg: man präsentiert die Arbeiten in mehr oder weniger chronologischer Abfolge.
Max Ernsts Œuvre ist derart vielfältig und so stark an historische Geschehnisse und seine Biografie geknüpft, dass der Weg entlang seinen Lebensstationen am meisten Sinn ergibt. Aus allen stilistischen Epochen haben die Kuratoren eine Handvoll Werke ausgewählt – von den ersten, von Expressionismus und Futurismus geprägten Arbeiten über die dadaistische Schaffensphase und den Surrealismus bis hin zum Spätwerk ist alles verteten.
Gefahr der Oberflächlichkeit
Diese Retrospektive erweist sich als Fundgrube für Ernst-Kenner wie für Neulinge. Erstere werden sich herauspicken, was ihnen wichtig erscheint, was sie vielleicht noch nie gesehen haben, letztere erhalten einen guten ersten Überblick. Doch wer nicht gut vorbereitet in dieser Ausstellung erscheint, der wird Gefahr laufen, nicht mehr als die Oberfläche zu streifen. Denn Max Ernsts Gedanken, die er in autobiografischen Schriften und zahlreichen Interviews äusserte, sind fürs Verständnis seiner Kunst ebenso wichtig wie die bildnerischen Werke selbst. Und es sind die vielfältigen Gedanken eines Künstlers, der den Stillstand als seinen grössten Feind ansah. Max Ernst war nicht nur ein vielseitiger Freigeist, der in seinen Werken nicht mit Kritik am Lauf der Welt sparte, sondern vor allem ein experimentierfreudiger Künstler, der die Metamorphose liebte und Reflexion als selbstverständlich ansah. Alles ist wandelbar, die Kunst am allermeisten.
Es gibt auch keine einzig richtige Deutung seiner Werke, sondern nur indivuelle Ansätze. Der Betrachter wird nicht nur mit der immer immanenten Frage der Bedeutung des Gesehenen konfrontiert, sondern auch mit der Frage nach der Bedeutung seiner selbst. Guck mal, das zeig ich Dir, was machst Du daraus?, scheinen Ernsts Werke zu fragen, und auf der Suche nach der Antwort darauf darf jeder sich mit sich selbst beschäftigen. Denn was man in Max Ernsts Bildern sieht, kann niemals Allgemeingültigkeit besitzen.
Nicht umsonst war Ernst ein grosser Fan von Sigmund Freuds Traumdeutung. Denn was er selbst auf Leinwand und Papier brachte, hat seine Wurzeln nur selten in der Realität. Einer Realität, die sich nicht zurückhielt: Max Ernst, geboren 1891, begann seine künstlerische Tätigkeit zu Zeiten des ersten Weltkriegs, er erlebte die Verfolgung durch die Nazis, wurde mehrfach interniert, floh schliesslich ins Exil in die USA. In den 50er Jahren kehrte er nach Frankreich zurück, in eine gewandelte Welt. Er erlebte eines der spannendsten und ereignisreichsten Jahrhunderte und passte seinen künstlerischen Ausdruck der jeweiligen Epoche an.
Schöpfung, Entwicklung, Verfall
Trotz seiner stilistischen Wandelbarkeit wurde sich Ernst jedoch nie untreu. Über 60 Schaffensjahre hinweg widmete er sich seinen Grundthemen: Schöpfung, Entwicklung, Verfall. Nur die Formen, die er dafür wählte, waren einem steten Wandel unterworfen. Immer wieder fand und erfand er neue Techniken, er collagierte (so perfekt wie kein Künstler zuvor und danach), er rieb die Farbe auf Leinwände, kratzte sie wieder ab, klatschte Farbe mittels Glasplatten auf Leinwände oder liess sie aus einem Loch in einer Dose auf die Leinwand tropfen (womit er Jackson Pollock inspirierte).
Wie abwechslungsreich der retrospektive Rundgang durch eine Ausstellung dieses Künstlers sich gestaltet, darf man sich ausmalen. Ab und zu jedoch sollte man in dieser Vielfalt näher treten und sich ein einzelnes Werk in seinem Detailreichtum zu Gemüte führen. Die Schnittränder in einer Collage suchen beispielsweise – man wird sie kaum finden. Die versteckten Fabelwesen in Gemälden wie etwa dem «Auge der Stille» auszumachen versuchen. Die nackten Frauen in den Toren der «Ganzen Stadt». Oder einfach mal die Titel zu den Werken lesen und sich überlegen, was der Maler sich dabei gedacht hat. Doch wofür auch immer man sich entscheidet: zumindest Zeit sollte man sich nehmen, vielleicht sogar für mehr als einen einzigen Besuch. Sonst ist das reich angerichtete Werk-Menu der Fondation Beyeler nämlich schlicht für die Katz.