«Tropicália»: Wie Kunst-Kannibalen aus Bahia einst «die Jugend gefährdeten»

Die Erschütterung währte nur drei Jahre. Doch mit der Tropicália erlebte Brasiliens Musikgeschichte zwischen 1967 und 1969 einen ihrer markantesten Wendepunkte. Die Einflüsse der Bewegung um Caetano Veloso und Gilberto Gil sind bis heute hörbar.

Die Erschütterung währte nur drei Jahre. Doch mit der Tropicália erlebte Brasiliens Musikgeschichte zwischen 1967 und 1969 einen ihrer markantesten Wendepunkte. Die Einflüsse der Bewegung um Caetano Veloso und Gilberto Gil sind bis heute hörbar.

Am Morgen des 1. April 1964 macht sich in Rio die Bossa Nova-Sängerin Wanda Sá auf, um den Song «Inútil Paisagem» für ihr Album «Vagamente» aufzunehmen. Als sie beim Tonstudio ankommt, findet sie es verschlossen vor, keiner der Orchestermusiker hat sich eingefunden. Erst allmählich begreift sie, dass Präsident João Goulart vom Militär entmachtet worden ist und keinerlei Verkehrsmittel in der Zuckerhutmetropole fahren. In ganz intimem Rahmen werden die Einspielungen fertig gestellt, nur mit den Künstlern, die es zum Studio schaffen. Ein später Gruss der unbeschwerten Bossa-Ära, die nach sechs Jahren unwiderruflich zu Ende geht.







Der Diktatur, die Brasilien von diesem Tag an bis 1985 fest im Griff hält, müssen andere musikalische Mittel entgegengesetzt werden. Einem Staatsapparat, der zensiert, verhaftet und foltert, mit raffinierter Lyrik über das Strandleben, die Sonne und die melancholischen Nöte und Freuden der Liebe zu begegnen, scheint wenig opportun. Die Bossa-Jünger zerstreiten sich darüber: Einige bleiben unpolitisch und ignorieren schlicht die neuen Gegebenheiten, andere versuchen sich an kritischer Poesie.



Gaetano Veloso, Gilberto Gil und Co.

Doch der eigentliche neue Impuls kommt aus einer ganz anderen Region: Wie so oft erfährt Brasiliens Musikgeschichte durch Persönlichkeiten aus dem Bundesstaat Bahia Belebung. Ein junger, linksorientierter Philosophiestudent namens Caetano Veloso, seine Schwester Maria Bethânia und die engen Mitstreiter Gilberto Gil, Gal Costa und Tom Zé ziehen Mitte der Sechziger von Salvador südwärts nach São Paulo.


Dieser Künstlerzirkel der «Baianos» hat sich mit der Bossa Nova auseinandergesetzt, will die neuen Lieder aber von allen formalen Strukturen befreien, einen freien Klang, einen «som livre» oder «som universal» schaffen. Beim Songfestival in der Metropole präsentieren Veloso und Gil 1967 ihre Titel «Alegria Alegria» und «Domingo No Parque», die nicht nur begeistert aufgenommen werden.  



In ihren Songkreationen lassen sie internationale Rockmusik von den Beatles bis Hendrix mit konkreter bis surrealer Poesie, ländlicher Folklore, Bossa und Geräuschkollagen aufeinandertreffen. Paradebeispiel für diese Vorgehensweise ist Caetano Velosos Stück «Tropicália», dessen Text in fragmentarischen Eindrücken ein flirrendes Mosaik von ganz Brasilien entwirft.

Den Begriff «Tropicália» (gleichrangig verwendet mit dem Terminus «Tropicalismo») übernimmt die Bewegung vom neokonkretistischen Künstler Hélio Oiticica, der unter diesem Titel eine Art Rauminstallation schafft. Poetische Vorbilder sind die Brüder Augusto und Haroldo de Campos sowie Oswald de Andrade, der bereits in den 1920ern ein «anthropophagisches Manifest» formuliert hat: Ein Künstler müsse, einem Kannibalen gleich, alles verschlingen und anschliessend in Selbstregie bearbeiten.

«Gesungener Journalismus»

Die neue Bewegung schlägt hohe Wellen: Ihr schliessen sich neben den Baianos zum Beispiel auch der Texter Torquato Neto, der Arrangeur Rogério Duprat und die Band Os Mutantes an, deren Version von «Panis Et Circenses» eine weitere wichtige Tropikalisten-Hymne wird. Sperrige Seitenfigur ist Tom Zé, dessen Lieder mitunter eine experimentelle Form des Berichtens annehmen, gemäss seinem Credo: «Ich mache keine Kunst, sondern gesungenen Journalismus.» 


Die Tropikalisten sehen sich mit einer feindseligen Haltung des konservativen, nationalistischen Publikums konfrontiert. Man kreidet ihnen an, der amerikanischen Rockkultur in Brasilien Tür und Tor zu öffnen. Auch das Regime von General Branco wird hellhörig und sieht in den Leitfiguren Caetano und Gil eine Gefährdung der Jugend.

Ein Sänger wird ins Gefängnis gesteckt

Legendär ist Velosos Auftritt mit dem Song «É Proibido Proibir» aus dem Jahr 1968 («es ist verboten zu verbieten»), der im Tumult endet und Veloso eine provokante Rede für mehr Toleranz halten lässt. Resultat: Der Sänger wird für Monate ins Gefängnis gesteckt. 1969 gehen er und Gilberto Gil schliesslich für einige Jahre ins Londoner Exil, wo vor allem Gil neue Impulse durch Begegnungen mit der anglo-amerikanischen Rockszene empfängt.  

Kritische und metaphorische Songtexte

Strenggenommen ist damit die kurze Ära des Tropikalismus bereits zu Ende. Doch dieser immens wichtige Moment der brasilianischen Musikgeschichte hat gewaltige Auswirkungen auf die Siebziger-Jahre. Die freigeistige Atmosphäre ermöglicht es der Música Popular Brasileira wie selbstverständlich das ganze Klangkaleidoskop Brasiliens mit Einflüssen aus der Aussenwelt zu kombinieren. Der Stachel gegen das Militärregime bleibt, grossartige Songschreiber wie Chico Buarque und Milton Nascimento, aber auch Veloso und Gil selbst nach ihrer Rückkehr lassen sich von der Zensur nicht einschüchtern, schreiben weiter kritische bis metaphorische Texte. Caetano Veloso bleibt der Gewagteste: Er provoziert mit Transgender-Allüren, integriert Indio-Elemente und psychedelische Töne.

Bis heute ist der Einfluss des Tropicalismo spür- und hörbar, gerade in São Paulo. Die Metropole bringt seit einigen Jahren etliche Künstler hervor, die eine psychedelische Grundausrichtung haben, alle möglichen Stile plündern und auch Soundmontagen in ihre Songs einbauen, wie etwa die Szene um die international bekannt gewordene Sängerin Céu.



Und die Alt-Tropikalisten selbst? Sie sind nach einer bewegten Laufbahn durch nahezu alle Musikgenres beide noch rührig. Caetano Veloso verjüngt sich gerade mit seiner Banda Cê, Musikern, die allesamt Vertreter der nächsten Generation sind, und er nähert sich einer Alternative- bis Noise Rock-Sprache an. Tom Zé ist nach seiner Wiederentdeckung durch David Byrne kauziger und spröder denn je geworden.

Ganz anders Gilberto Gil nach seiner kurzen und künstlerisch beengenden Karriere als Kulturminister: Erst spielte er die Partymusik des nordöstlichen Hinterlandes, den Forró, jetzt singt er auf seinem neuen Album das Loblied seines grossen Bossa Nova-Idols João Gilberto.


Und so bleiben die Grandseigneurs der Bewegung auch mit über 70 Jahren noch immer Garanten für das, wofür die Tropicália einst stand: Vielfältigkeit und Unberechenbarkeit.


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Das war «Brasilien im Fokus»:
Die TagesWoche widmete sich in den letzten Tagen auch kulturell dem Gastgeberland der Weltmeisterschaft 2014 – eine Übersicht der restlichen Artikel liefert das Dossier zum Thema.


Auswahldiskographie
– Caetano Veloso: «Caetano Veloso» (1968)

– Gilberto Gil: «Gilberto Gil» (1968)

– Veloso, Gil, Tom Zé, Os Muntantes & Gal Costa: «Tropicália Ou Panis et Circensis» (1968)

- Os Mutantes: «Os Mutantes» (1968)

– Tom Zé: Grande Liquidação» (1968)

– Caetano Veloso & Gilberto Gil: «Barra ’69» (1969)

- Céu: «Vagarosa» (2009)

– Caetano Veloso: Abracaço» (2012)

– Tom Zé: «Tropicália Lixo Lógico» (2012)

- Gilberto Gil: «Gilberto’s Samba» (2014)

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