Tschechows «Iwanow» im Morgenland

Amir Reza Koohestani und seine Mehr Theatre Group aus Teheran zeichnen mit dem Tschechow-Klassiker «Iwanow» ein eindrückliches Bild der Resignation, die sich in der Iranischen Gesellschaft nach dem Scheitern der «Grünen Revolution» eingestellt hat. Die TagesWoche hat sich die packende Inszenierung schon vor dem Theaterfestival Basel angeschaut und mit dem Regisseur gesprochen.

Eine «Russin» mit Kopftuch. Sasha in der Inszenierung von Amir Reza Koohestani.

Amir Reza Koohestani und seine Mehr Theatre Group aus Teheran zeichnen mit dem Tschechow-Klassiker «Iwanow» ein eindrückliches Bild der Resignation, die sich in der Iranischen Gesellschaft nach dem Scheitern der «Grünen Revolution» eingestellt hat. Die TagesWoche hat sich die packende Inszenierung schon vor dem Theaterfestival Basel angeschaut und mit dem Regisseur gesprochen.

Iwanow ist ein Kotzbrocken und ein bemitleidenswertes Stück Elend zugleich: ein überflüssig und sich selber überdrüssig gewordener Mensch, der in seiner beispiellosen Lethargie gewissermassen zum schwarzen Loch zusammengefallen ist, das jeglichen Lebensmut zum Zerbröseln bringt. Seinen eigenen und den der Personen, die ihn umgeben.

Alles an ihm ist pure Schlaffheit; der eingesunkene Körper vermag das Stehen auf zwei Füssen kaum mehr zu bewältigen, als ob sich sein Knochengerüst aufgelöst hat. Wenn er spricht, dann mit einer dünnen und zittrigen Stimme, die eigentlich gar nicht richtig gehört werden will. Der struppig krause Haarschopf umrahmt ein schlecht rasiertes Gesicht, das zwischen den Kopfhörermuscheln, die ihn mit einem Englischkurs berieseln, ein Augenpaar offenbart, das ausdruckslos ins Nichts gerichtet ist.

Zielscheibe der Zensurbehörden und Aushängeschild

Es geht um die «Iwanow»-Inszenierung des Iraners Amir Reza Koohestani. Der 36-jährige Regisseur ist ein renommierter Theatermacher, der in seiner Heimatstadt Teheran bei einem vornehmlich jungen Publikum grosse Erfolge feiert und in der internationalen Theaterfestival-Szene zu den begehrten Protagonisten zählt. Diese herausragende Stellung hat Vor- und Nachteile. Auf der einen Seite schauen ihm die Zensurbehörden ganz genau auf die Finger, auf der anderen würde sich die Kulturbehörde gerne mit seinem Namen als Kulturbotschafter des Landes, das sich um ein liberales Image bemüht, schmücken. Kulturbotschafter will Koohestani nicht sein, wie er im Gespräch vor einer Aufführung am Zürcher Theater Spektakel sagt:

«Ich hasse diese Rolle. Viele Europäer wünschen sie sich ebenfalls und fragen mich: Was passiert politisch im Iran, wie ist die Lage der Frauen? Und dann wollen sie etwas Exotisches hören, um die Aufmerksamkeit der Festivaldirektoren und der Medien zu wecken.»

Amir Reza Koohestani

Amir Reza Koohestani

Tatsächlich ist das Interesse, sehr zu Koohestanis Überraschung, gross. Nach Hannover und Brüssel folgten nun Einladungen nach Zürich und schliesslich auch ans Theaterfestival Basel, bevor es dann nach Amsterdam weitergehen wird. Und tatsächlich hat das europäische Interesse an Rezas «Iwanow» einen sensationslüsternen Aspekt. Die Inszenierung wurde zunächst von der Zensurbehörde verboten, Wahnsinn! Die weiblichen Figuren tragen Kopftuch, Wahnsinn! Reza sagt selbst, das zwischenzeitliche Verbot, bis das Stück mehrfach angepasst wurde und damit freigegeben, sei die beste Werbung für das Stück gewesen.

Kraft des Anliegens

Zugleich ist etwas dran an dem Interesse. Man merkt, wenn man das Stück sieht, dass Regisseur und Schauspieler darum kämpfen müssen ihre Stimme zu erheben. Und dieser Kampf zeigt, wieviel das Stück mit ihrer politischen und gesellschaftlichen Situation zu tun hat, die sie ausdrücken wollen und nur bedingt dürfen. Dadurch kriegt die Arbeit der Mehr Theatre Group eine besondere Einfachheit. Es gibt kaum Aspekte, die zusätzlich inszeniert werden müssen. Die Darsteller spielen einfach, unterhalten sich wie Menschen im Alltag, bewegen sich wenig. Die Inszenierung benötigt kaum Bühnenbild, kein Geschrei, keine bunten Deutungen des Textes durch aufgeregte Kostüme oder Anordnungen des Bühnenraums. Die schiere Tatsache, diesen Text vor diesem Hintergrund zu spielen, erzeugt mehr Spannung als die meisten Inszenierungen an unseren Bühnen zusammen, wo alle Möglichkeiten zur Gestaltung offenstehen.

Die Auseinandersetzungen mit der Zensurbehörde bedeuten einen grossen Aufwand, wie Koohestani sagt. Er weist aber auch darauf hin, dass man sich die Beamten nicht als unbedarfte und sturköpfige Zensoren vorstellen dürfe. Viele von ihnen seien gut gebildete Menschen, die durchaus eine Ahnung vom Theater haben. Einige von ihnen nennt er seine Freunde. «Während der Prüfung von „Wo warst du am 8. Januar?“ (wird ebenfalls in Basel gespielt, Red) haben zwei Leute aus dem Komitee ihren Job geopfert, damit das Stück auf die Bühne kann.»

Aber warum wurde der Klassiker Tschechow von der Zensur erfasst? «Er ist ja nicht eigentlich ein politischer Theaterautor», sagt Koohestani,  «und er gehört im Iran zu den beliebten Autoren; seine Stücke sind alle übersetzt und zu kaufen. Aber die Zensurbehörden haben den Link von der Figur, die sich dazu entschieden hat, sich nicht mehr zu entscheiden, zu den desillusionierten jungen Menschen aus der Grünen Bewegung offensichtlich herausgelesen.»

Die Inszenierung ist infolge der gescheiterten grünen Revolution entstanden, bei der sich 2009 Tausende Iraner gegen die Bestätigung von Mahmud Ahmadinedschad als Präsident auflehnten und mit Gewalt zurückgeschlagen wurden.  Koohestani hütet sich davor, dem Stück politische Brisanz einzuhämmern. Er bleibt im Gegenteil sehr nahe bei der Vorlage. Die Bezüge zur iranischen Gegenwart beschränken sich mehr oder weniger darauf, dass von Facebook, Tattoos und Börsenspekulationen die Rede ist. Darauf, dass sich die zehn Menschen auf der Bühne im wunderbaren Farsi-Singsang unterhalten. Und natürlich darin, dass die starken Frauenfiguren auf der Bühne Kopftücher tragen.

Politische Relevanz, die nicht unterstrichen werden muss

Die politische und gesellschaftliche Relevanz wird fassbar, ohne dass Koohestani spezielle Hinweise platzieren muss. Doch worin besteht sie? Reza selbst ist überrascht, dass sie sich ergab: «Ich wollte ein Tschechow Stück machen. Erst während der Arbeit taten sich all die politischen Bezüge auf.»

Das Stück handelt von Iwanow, der früher für sein Umfeld sorgen konnte. Ein Philanthrop, «ein Champion» war, wie Reza ihn nennt. Seine Beziehungen zu Frauen treiben ihn jedoch in die Resignation. Seine Ehefrau Anna ist todkrank, doch Iwanow liebt sie nicht mehr und kann ihr nicht beistehen. Zugleich verliebt er sich in die junge Sasha, kann sich jedoch auch zu ihr nicht bekennen, da er an Anna hängt.

«Was ist falsch mit mir?» fragt er einmal im Stück. Er resigniert vor den Entscheidungen, die sich aufdrängen und weiss selber nicht, was mit ihm los ist.

«Wir alle sind Iwanow»

Ähnlich hat Koohestani die Iraner erlebt, als er kurz nach der grünen Revolution im Jahr 2011 nach einem zweijährigen Englandaufenthalt zurückkehrte.

«Die Leute waren aggresiv. Sie sprangen aus dem Auto und stritten sich, wenn sie eine Augenblick warten mussten. Etwas musste ausgedrückt werden, konnte aber nicht. Dieser Eindruck hat mich enttäuscht. Ich habe mit diesen Leuten mein Leben verbracht, ich erkannte sie nicht wieder.»

Iwanows Art, sich aus der Verantwortung für seine kranke Frau zu ziehen, sie aber doch nicht zu verlassen, empfindet Reza als Gewalttat, als Metapher für die aggressive, ziellose Haltung der Iraner vor drei Jahren. Offensichtlich traf er damit den Punkt. «Wir alle sind Iwanow», wurde über seine Inszenierung geschrieben und verbreitete sich über die sozialen Netzwerke.

Die Lethargie seines Iwanow geht soweit, dass dieser zum Schluss nicht mal seinen Monolog sprechen kann, in dem er seine Verfehlungen einsieht. Koohestani lässt den Monolog durch eine englische Stimme aus dem Off sprechen, Iwanow flüstert sie nach. Auch den Selbstmord, den Tschechow an das Ende gesetzt hat, kriegt er bei Koohestani nicht hin.

Westliche Zuschauer werden die Bezüge zur Gesellschaft nicht in dem Mass ziehen. Dennoch geht die Inszenierung unter die Haut. 

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Es finden am Theaterfestival statt:

«Iwanow», ab 30. August
«Wo warst du am 8. Januar?», ab 2. September
Eine Podiumsdiskussion mit u. A. Amir Reza Koohestani über die Bedingungen des künstlerischen Arbeitens im Iran, 31. August
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