Und sie dreht sich noch

Einst versuchte die Industrie, ihr den Todesstoss zu geben. Heute scheint es, als würde die Schallplatte die CD überleben. Heute Sonntag treffen sich Vinylfans aus der ganzen Schweiz zum Analogforum in Basel.

Kultig und trendy: Die Schallplatte.

Einst versuchte die Industrie, ihr den Todesstoss zu geben. Heute scheint es, als würde die Schallplatte die CD überleben. Jetzt treffen sich Vinylfans aus der ganzen Schweiz zum Analogforum in Basel.

Wenn sich Reinhard Hugentobler entspannen möchte, dann überlässt er nichts dem Zufall: Er zieht eine Schallpllatte aus dem Regal, zum Beispiel Jazz von Charlie Parker, wäscht sie mit einer alkoholhaltigen Spezialflüssigkeit, um Staubpartikel zu entfernen, und legt sie behutsam auf seinen Plattenspieler. Der Tonarm, den ein Schweizer Uhrmacher auf der Suche nach der reibungslosesten Konstruktion ertüftelt hat, wird geführt, die End­stufe aufgedreht, und Hugentobler nimmt Platz in ­seinem Sessel, den er in einer erprobten Distanz vor den Lautsprechern platziert hat. Dann schliesst er die Augen und geniesst die Musik. Taucht in sie ein, verschwindet in ihr.

Perfektionisten und Fetischisten

Hugentobler ist ein Audiophiler. Einer jener Menschen, die keinen Weg scheuen, um ihren Hör­genuss zu maximieren. Von den Kabeln bis zur Plattennadel erleben wir in seinem Wohnzimmer das Resultat aus Klangerfahrungen, die er in den letzten 50 Jahren gesammelt hat. Als Teenager infizierte ihn ein älterer Musikfan mit dem Jazz- und High-End-Virus. Beides hat ihn seither durchs Leben begleitet. «Ich war Lehrer, habe den ganzen Tag gegeben. Am Abend lud ich meine Batterien wieder auf, indem ich Musik genoss.»

Ein TV-Gerät sucht man im Haushalt der Hugentoblers vergebens. «Ein bewusster Verzicht meiner Frau und von mir», sagt er, «denn ein Fernseher bringt uns keine Erholung, keine Ruhe. Die Musik hingegen schon.»

Analogforum in Basel:
Sonntag, 17.11., 10 bis 18 Uhr. Bildungszentrum 21, Missionsstrasse 21. Freier Zutritt. Programm:
www.aaa-switzerland.ch

Seit 20 Jahren tauscht sich Reinhard Hugentobler mit Gleichgesinnten aus: Analogue Audio Association Switzerland heisst der Verein, der sich der Erhaltung und Förderung der analogen Musikwiedergabe verschrieben hat. Freaks? Irgendwie schon. Perfektionisten, Fetischisten? Auch das. Als Sammler aber würde sich Hugentobler nicht bezeichnen. Da gebe es andere Mitglieder, die weit mehr als 1000 Platten horten, sagt er. «Sammler wollen Platten besitzen, ich will sie hören», bringt er den Unterschied auf den Punkt.

Uns ist vor Jahren mal ein solcher Besitzer begegnet: Ein Basler Sammler, der seine 40’000 Platten bei Lloyds für mehr als eine Million Franken versichert hatte (weshalb wir seinen Namen nicht verraten), die Alben aber auf einem uralten, günstigen Plattenspieler rotieren liess. Er gab sein ganzes Geld für die Erweiterung seiner Vinylsammlung aus, für die er ein eigenes Zimmer benötigte und an die er nicht einmal seine Kinder ranliess. Das teuerste Stück in seiner Kollektion hatte einen Wert von 10’000 Franken: eine ultrarare amerikanische Originalpressung der kanadischen Band McKenna/Mendelson Mainline. Nie davon gehört? Deshalb ist die auch so teuer!

Partys auf 45 Touren

Was der Sammler mit Hugentobler gemein hat: Sie verzichten auf Status-Symbole wie teure Autos. Lieber investieren sie in ihre Leidenschaft, die Musik.

Das haben sie auch mit jenen Vinylfetischisten gemein, für die die Platte ein Arbeitsinstrument ist: die DJs. Diese tauchen zwar immer seltener mit 15 Kilo Schallplatten auf, sondern einfach mit einem Laptop unter dem Arm (die Suva dankts). Aber bei den Liebhabern hat die Platte noch immer unerreichte ­Klasse. Im Basler «Sääli zum Goldenen Fass» rotieren sogar regelmässig die Singles – und zwar auf 45 Touren.

Auch in grösseren Clubs wie der Kuppel oder Kaserne sind die Plattenspieler noch nicht im Estrich gelandet. Warum? «Vinyl sorgt noch immer für den besten Sound auf der Tanzfläche», sagt Johny Holiday, DJ der Hip-Hop-Crew Brandhärd. Zwar arbeitet er bei zeitgenössischer Musik mit dem Laptop – «zwangsläufig, weil nicht mehr alles auf Vinyl erhältlich ist», wie er erklärt. Wenn es aber um ältere Musik geht, wie er sie in der Reihe «Rap History Basel» auflegt, dann geht nichts über den warmen, knusprigen Klang des Vinyls. Und um das haptische Vergnügen, eine solche aus dem Schutzumschlag zu ziehen.

Wie viel sinnlicher Vinyl ist, vom Anblick des grossformatigen Covers bis zum Aufsetzen der alten Saphirnadel oder des neuen Diamanten, stellen auch solche fest, die erst mit dem Revival auf den Geschmack gekommen sind. «Mir fällt auf, dass sich vermehrt jüngere Leute, die gar nicht mit Vinyl aufwuchsen, bei uns eindecken», erzählt Muriel De Bros, Verkäuferin im Plattfon Stampa. Drei von vier Alben, die hier an der Feldbergstrasse über den Ladentisch gehen, sind Schallplatten – oft mit einem Bonus ausgestattet, auf den die junge Generation Wert legt: einen Download-Code. Damit kann man die Musik auch vom Netz herunterladen, der eigenen Datenbank hinzufügen und sie zum Beispiel unterwegs anhören.

Nur noch jedes vierte Album, das im Plattfon Stampa verkauft wird, ist hingegen eine Compact Disc. Dabei wurde ausgerechnet dieses Produkt vor 30 Jahren auf den Markt gebracht, um der Schallplatte den Todesstoss zu geben. «Man versprach sich alles davon», erinnert sich Urs Graf vom Basler Hi-Fi-Geschäft Gramophone 2010. «Doch die CD verlor spätestens dann an Faszination, als sie zum billigen Speichermedium für alles Mögliche wurde.»

Als Musiklabels vor einigen Jahren damit begannen, alte Soul-, Jazz- und Rockplatten wieder herauszubringen, fanden diese nicht nur den Weg zu Ketten wie Musik Hug und Media Markt. Auch Urs Graf nahm die mit 180 Gramm spürbar schwereren und ruhiger drehenden Schallplatten ins Sortiment auf, «als Dienstleistung», denn eigentlich ist er nicht auf die Tonträger, sondern auf die Hardware spezialisiert. In seinem Geschäft an der Theaterstrasse baut er wöchentlich Plattenspieler zusammen, sei es im unteren Preissegment für 300 Franken oder ein Edelteil für 10’000 Franken. Der Absatz bei den Plattenspielern ist erfreulich konstanter als jener der CD-Player. Das deckt sich mit neusten Trends. In Deutschland legte der Verkauf von Schallplatten im ersten Halbjahr 2013 um 30 Prozent zu, Umsatz: 11,8 Millionen Euro. (Von der Ifpi Schweiz haben wir auf unsere schriftliche Anfrage keine Auskunft erhalten.)

Wie erklärt sich Graf den Trend zurück zum Vinyl? «Das Material ist langlebiger, zeitloser. Zudem ist digitale Musik viereckig, die Schallplatte aber ist rund, wie der Mensch auch. Analoge Musik geht auf direktem Weg unter die Haut.»

Zwar hat Graf in seiner privaten Sammlung auch CDs, er widerspricht auch der weitläufigen Meinung, die Digitaltechnik könne nicht das gleiche Klangspektrum wiedergeben (kann sie schon, wenn man bereit ist, ein bisschen in die Musikanlage zu investieren). Aber CDs haben den Anschein von Gebrauchsgegenständen. An einem freien Tag liebt auch er es, ganz bewusst eine Schallplatte aufzulegen. «Man kann es so vergleichen: Unter der Woche reicht ein Tischwein, am Wochenende aber gönnt man sich einen Riserva.»

Auch im Gramophone 2010 tauchen vermehrt neue Kunden auf. Graf erzählt von der jungen Frau, die die Vinylsammlung des Grossvaters nach dessen Tod vor der Brocki rettete, aber kein funktionstüchtiges Abspielgerät hatte. Oder vom Teenager, der monatelang Sackgeld sparte, um sich sein schönstes Geschenk selbst zu machen: einen Plattenspieler für 490 Franken. «Kurz darauf kam er wieder vorbei und zeigte mir, was er auf dem Flohmi auf dem Petersplatz gefunden hatte: Deep Purple, Led Zeppelin, die alten Klassiker. ‹Wissen Sie, ich kann mit der Musik von heute einfach nichts ­anfangen›, sagte er. Und strahlte angesichts der Fundstücke.»

Von Disco bis Folk

Zurück zu Plattfon Stampa: Hier holen sich Nostalgiker wie Hipster und Hopper ihre Scheiben, die nur der Vinylflash verursachen kann. Bei unserem Besuch durchstöbert ein ­deutsches Touristenpaar, beide um die Fünfzig, die Regale: Er schnappt sich die Vinylveröffentlichung der schottischen Indieband Glasvegas, sie ein Hendrix-­Album. «Nicht ungewöhnlich: Auch Hip-Hopper sind scharf auf Re-Issues, auf die Neuauflagen alter Klassiker», sagt De Bros. Dass diese meist teurer sind als die CD, nimmt der Fan in Kauf. Ein audiophiles Produkt kostet auch mal mehr als 70 Franken: Dieses zeichnet sich meist durch eine Etikette aus, auf der das Presswerk deklariert ist – und die Info, durch wen das ­Mastering erfolgte. Für Kenner ein Qualitätssiegel. Und welche Platten waren im laufenden Jahr die grössten Renner? «Daft Punk – und die Alben von Rodriguez», sagt De Bros. Disco und Folk. So breit ist das Vinylspektrum wieder geworden. Und kein Ende vom Boom in Sicht. Das kann man am Sonntag, 17. November, erfahren: Dann treffen sich die analogen Liebhaber in Basel, um ihr Fachwissen auszutauschen.

Wie reinigt man eine Vinylplatte auf professionelle Weise? Reinhard Hugentobler macht es vor: 

Artikelgeschichte

Erschienen in der Wochenausgabe der TagesWoche vom 15.11.13

Nächster Artikel