Um die rätoromanische Sprache zu retten, stellen Bund und Kanton Graubünden viel Geld zur Verfügung. Kulturschaffende, die mit der rätoromanischen Sprache arbeiten, sind in der Förderung gegenüber Deutschbündnern im Vorteil. Das bleibt nicht ohne Kritik.
Der Track hiess «Siemis» und läutete 2006 eine neue Ära ein. Der Clip, gefilmt in den Valser Thermen, gehörte zu einem der meistgespielten Videos des Jahres des Musiksenders Viva und hievte ihre Urheber, das Bündner Hip-Hop-Kollektiv Liricas Analas, über die Kantonsgrenzen hinaus. Das Besondere daran: «Siemis» war in Rumantsch gerappt. Eine Sprache, die laut der letzten Volkszählung noch von 60 000 Menschen gesprochen wird, die aber von Generation zu Generation an Bedeutung verliert.
Die Liricas Analas rappen auch sechs Jahre nach «Siemis» weiterhin auf Rumantsch, trotzdem haben sie sich etabliert. Wie kommt das? «Musik ist eine universale Sprache, die auch ohne Textverständnis Emotionen wecken kann», sagt ihr MC Roman Flepp. Dass sie nicht die einzigen sind, die in ihrer Muttersprache Rumantsch rappen, hat Flepp selbst bewiesen. 2007 veröffentlichte er die Kompilation «Accent», die 15 Musiker und Bands aus verschiedenen Genres mit je einem Titel versammelt. Was sie eint, ist das Rätoromanische. Sein Engagement gefiel dem Kanton, er verlieh Flepp einen Förderpreis in der Höhe von 7000 Franken.
Auffällige Betonung der Sprachförderung
Der Betrag ist verhältnismässig gering, aber kein Einzelfall. Blättert man durch die Historie der Förderbeiträge, die das Amt für Kultur des Kantons Graubünden in den vergangenen Jahren ausgesprochen hat, fällt die Betonung der Sprachförderung auf.
2009: 15 000 Franken für das Engagement eines Publizisten für die romanische Kultur und Sprache, die gleiche Summe an eine Kulturvermittlerin der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt Radiotelevisiun Svizra Rumantscha RTR.
2010: 20 000 Franken für den Chefredaktor eines Rumantsch-Wörterbuchs, und an eine Romanistin, die die Schriftsprache Rumantsch Grischun weiterentwickelt hat. Und ebenfalls 2010: 20 000 Franken an die Sängerin und Schauspielerin Corin Curschellas, die Grande Dame der rätoromanischen Musikszene.
Nur noch Bruchstücke
Dieser Auszug macht deutlich: die Bewahrung des Rumantsch ist dem Kanton etwas wert. «Es steht sehr schlecht um das Romanische», schrieb das Bundesamt für Statistik in einer Studie aus dem Jahr 2005 ungewöhnlich alarmierend. «Es sind nur noch Bruchstücke dessen vorhanden, was traditionell sein Eigen war, und selbst diese Bruchstücke halten nur noch eher schlecht als recht.»
Also muss man fördern. Der Bund unterstützt seit einem Hilferuf der Bündner Regierung vor 30 Jahren die Konservierung des Rumantsch mit mittlerweile 4,7 Millionen Franken jährlich. Dazu kommen die Förderbeiträge des Kantons und privater Stiftungen und Firmen sowie nur vage bezifferbare Leistungen wie das Angebot der Sendeanstalt RTR, die ihr Musikprogramm bis zur Hälfte mit rätoromanischen Titeln füllt.
Die Kultur ist dabei, neben den Schulen, eine der wichtigsten Empfängerinnen. Eine Besonderheit des Amtes für Kultur des Kantons Graubünden ist, dass es neben der Kulturförderung, die grösstenteils über die Einnahmen der Landeslotterie finanziert wird, zusätzlich über ein getrenntes Budget zur Sprachförderung verfügt. Fünf Millionen Franken jährlich, zwei Drittel davon gehen an rätoromanische Projekte. «Damit wird dem Faktum Rechnung getragen, dass das Rumantsch – anders als das Italienisch – nicht über ein Hinterland verfügt», sagt Ivo Berther, Beauftragter für Sprachförderung im Amt für Kultur.
Der Bund unterstützt die Konservierung des Rumantsch.
In der Theorie sind Sprach- und Kulturförderung also getrennt und die drei Sprachregionen Deutsch, Rumantsch und Italienisch strikt gleich behandelt. Der erwähnte Auszug aus der Preisträgerliste zeigt jedoch, dass in der Praxis die Trennung nicht einfach aufrechtzuerhalten ist. Weil zudem die Beiträge aus der Sprachförderung in der Regel um rund fünf Prozent höher sind, um Förderprojekte mit einem «besonderen» – sprich kulturellen – Akzent zu honorieren, ist es für Kulturschaffende grundsätzlich lukrativer, in ihren Projekten einen rätoromanischen Aspekt zu betonen. «Der Punkt ist, dass man als rätoromanischer Kulturschaffender nicht die gleich langen Spiesse hat wie ein Deutschbündner. Das Einzugsgebiet ist viel kleiner», sagt Ivo Berther. «Ein Autor, der sein Buch in Deutsch verfasst, hat einen Markt bis nach Berlin – den er sich jedoch mit einer grösseren Konkurrenz teilen muss.»
Enge Seilschaften
Von dieser Sonderregelung profitiert beispielsweise das Musiklabel R-Tunes mit Sitz in Chur, das vor einem Jahr den Betrieb aufgenommen hat und ausschliesslich Musik in Rumantsch veröffentlicht. Im Katalog ist das aktuelle Album von Corin Curschellas, aber auch die Platten jüngerer Acts wie der Sängerin Bibi Vaplan oder im kommenden Jahr des Rockmusikers Roland Vögtli unter dem Namen Cha Da Fö.
Am Beispiel von R-Tunes wird ersichtlich, wie eng die Synergien – oder Seilschaften – in der kleinen rätoromanischen Musikszene geknüpft sind. RTR produziert die Reihe «TopPop Rumantsch», für die lokale Musiker auf Senderkosten in den Aquarium-Studios einen Song aufnehmen können, der anschliessend ins Radioprogramm aufgenommen wird. Daran beteiligt waren auch schon Musiker von R-Tunes wie Vaplan oder Vögtli, die ebenfalls Teilzeit bei RTR arbeiten.
«Ohne Fördergeld können wir keine Alben veröffentlichen», sagt Michel Decurtins, und rechnet: für ein Projekt in der Höhe von 50 000 Franken wird ein Drittel durch Unterstützungsbeiträge finanziert, in der Regel durch die höher dotierte Sprachförderung des Kantons, und nicht durch den Kulturtopf. Decurtins bilanziert: «Mit Projekten in Rumantsch erhält man mehr als in deutscher Sprache.»
Lia Rumantscha in der Kritik
Das erstaunt. Denn neben dem Amt für Kultur existiert in Graubünden seit fast 100 Jahren noch eine private Organisation, die sich der Bewahrung des Rumantsch verschrieben hat und ihr Budget von knapp 3,5 Millionen ebenfalls zu mehr als zwei Dritteln mittels öffentlichem Geld finanziert: die Lia Rumantscha. Die Lia ist die Dachorganisation aller rätoromanischen Organisationen des Kantons – und gegenwärtig in der Kritik: kurz vor Weihnachten hat sie der Geschäftsführerin der Chasa Editura Rumantscha, dem ersten Buchverlag für ausschliesslich rätoromanische Literatur, aus Spargründen gekündigt und damit eine dreijährige Aufbauarbeit zunichte gemacht. Schwer nachvollziehbar, da der jährliche Output (vier Buchpublikationen) von allen Seiten gewürdigt wird. «Langsam und qualvoll» werde der Verlag wieder eingehen, fürchtete das «Bündner Tagblatt» in einem Leitartikel (online nicht verfügbar).
«Die Chasa Editura Rumantscha hat der rätoromanischen Literatur erstmals professionelle Strukturen verliehen», sagt etwa Arno Camenisch, einer der bekanntesten Bündner Schriftsteller. Camenisch, der seine Bücher in einem Deutschschweizer Verlag veröffentlicht, betont: «Eine bedrohte Sprache muss die Leute emotional berühren, um weiter existieren zu können. Literatur kann einen grossen Beitrag dazu leisten.» Bei der Lia Rumantscha begründet man den Entscheid einzig mit Sparzwängen.
Ob die Lia Rumantscha damit eine Krise ereilt, ist offen. Unumstritten ist sie vor allem unter Kulturvertretern nicht: Esther Krättli, Romanistin und Mitglied bei der kantonalen Kulturförderungskommission, nennt die Organisation «ein künstliches Konstrukt, eine Blase, die ihren Sinn verloren hat», und Michel Decurtins vom Label R-Tunes fragt offen: «Ist diese Organisation notwendig, oder benötigt sie ihre Finanzen vor allem zur Systemerhaltung?»
Der Neid mischelt mit
Der Neid ist der älteste Bündner, sagt man, und möglicherweise hat er bei den Diskussionen um die richtige Verwendung der Förderressourcen seine Hand im Spiel. Festzuhalten ist, dass nach jahrzehntelanger intensiver Unterstützung das Rumantsch weiter schrumpft, hingegen dort, wo es gemessen an der Grösse der Sprachgruppe eine breite Verwendung erfährt, von der Lia Rumantscha kaum gefördert wird: in der Kultur.
Gut möglich, dass die Organisation über die Bücher muss. Als Konsequenz auf den Entscheid im Fall Chasa Editura Rumantscha hat der Kanton, der die Geldbeiträge des Bundes an die Lia verwaltet, die Verhandlungen über die Leistungsvereinbarung mit ihr hinausgeschoben. «Der Kanton ist der Meinung, dass das Chasa Editura Rumantscha in derselben Form und Grösse weiterbestehen muss, um etwa gleich viel Bücher in derselben Qualität zu publizieren», sagt der zuständige Regierungsrat Martin Jäger. Die bisherige Vereinbarung lief Ende 2012 aus, ohne Konsens. Weiter geredet wird im Januar.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 04.01.13