«Unsere Freunde sagten, ihr seid doch nicht ganz normal»

Das Vorstadttheater Basel wird 40 Jahre alt. Gegründet wurde es von der Schauspielerin Ruth Oswalt und ihrem 2013 verstorbenen Mann Gerd Imbsweiler. Im Interview mit der TagesWoche äussert sich Ruth Oswalt zur bemerkenswerten Geschichte des bemerkenswerten Hauses, das weit über die Grenzen Basels hinaus (Kinder-)Theatergeschichte geschrieben hat.

Ruth Oswalt (Bild: Claude Giger)

Das Vorstadttheater Basel wird 40 Jahre alt. Gegründet wurde es von der Schauspielerin Ruth Oswalt und ihrem 2013 verstorbenen Mann Gerd Imbsweiler. Im Interview mit der Tageswoche äussert sich Ruth Oswalt zur bemerkenswerten Geschichte des bemerkenswerten Hauses, das weit über die Grenzen Basels hinaus (Kinder-)Theatergeschichte geschrieben hat.

Ruth Oswalt, zusammen mit Gerd Imbsweiler haben Sie das Vorstadttheater Basel gegründet und 33 Jahre lang geleitet. Was sind das für Erinnerungen, wenn Sie auf die Anfangszeit zurückblicken?

Da handeln Sie sich ein Problem ein. Wenn ich über unsere Anfangszeit zu erzählen beginne, dann bin ich übermorgen noch am Reden. Es ist erstaunlich, vielleicht aber auch ganz normal, dass sich unser erstes Jahr unlöschbar auf meiner Festplatte eingebrannt hat. Ich kann mich an kleinste Details von Vorstellungen erinnern, daran, wie die Kinder reagiert haben. Ich weiss noch ganz genau, wie unsere allererste Vorstellung ablief – das war mit «Kikerikischte» – das Theater war übervoll, die Leute sassen auf dem Boden. Das war ein unglaublicher Moment! Ich weiss, um nur ein kleines Beispiel zu nennen, noch, wie Black Tiger als Zweieinhalbjähriger bei einer Probe zu diesem Stück – wir waren Clowns, die mit Murmeln spielten – auf die Bühne huschte, um mitzuspielen. Wir spielten mit ihm mit der Folge, dass er an der Premiere erneut auf die Bühne kam. Ich weiss nicht, wo ich beginnen soll. Es sind unglaublich intensive und tolle Erinnerungen. Übrigens: Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir das Theater geleitet haben, wir sind dabeigeblieben. Der Betrieb funktionierte basisdemokratisch, das gesamte Team konnte jeweils mitentscheiden.

Aber Sie haben das Haus gegründet. Wie war das für Sie und Gerd Imbsweiler, ein eigenes Theater für Kinder zu gründen? Das war doch ein grosses Risiko?

Unsere Freunde und Kolleginnen und Kollegen sagten, ihr seid doch nicht ganz normal – das sagten wir uns später rückblickend ebenfalls. Aber damals dachten wir keineswegs so. Wir hatten aber auch Glück und konnten in den 1970er-Jahren die Gunst der Stunde nutzen. Gerd bettelte 5000 Franken zusammen und sagte: So, jetzt fangen wir an. Im Januar 1974 gründeten wir die Träger-Genossenschaft und am 24. April, also nur gerade drei Monate später, standen wir mit unserer ersten Produktion auf der Bühne. Wir konnten unser Theater nur notdürftig einrichten, mit einem Zuschauerpodest aus hölzernen Bierkisten – das war das billigste Material, das wir fanden.

Ein neues Theater zu gründen mit gerade mal 5000 Franken in der Tasche: Hatten Sie keine Angst, dass das ganz gehörig schiefgehen könnte?

Wir sagten uns einfach, lass es uns versuchen. Wenn wir uns von irgendwelchen Befürchtungen hätten bremsen lassen, dann hätten wir das Projekt wahrscheinlich nie in Angriff genommen. Ich muss aber sagen, dass Gerd das Zugpferd war. Er trieb die Sache voran nach der Devise: Wenn wir es nicht versuchen, werfen wir uns das vielleicht ein ganzes Leben lang vor.

Und das Theater wurde quasi zu Ihrer Lebensaufgabe.

Wir dachten niemals daran, dass es unser Leben so sehr prägen würde. Wir wollten loslegen und schauen, wie lange wir durchhalten, wie lange wir Menschen finden, die den Weg gemeinsam mit uns beschreiten möchten.

Sie und Gerd hatten keine Kinder aus Fleisch und Blut. War das Theater Ihr Kind?

Das hatte sicher zum Teil miteinander zu tun. Ich wollte keine Kinder, weil ich mich davor fürchtete, dass ich den Bezug zum Theaterspielen verlieren könnte.

War das Vorstadttheater ein gutes Kind?

Das war es. Gerd konnte vor seinem Tod rückblickend sagen: Wir haben etwas zustande gebracht! Unser Theater stiess auf grosse Anerkennung – nicht nur im In-, auch im Ausland –, wir erhielten viele Preise. Wir hatten nie mit diesen Preisen gerechnet und sie auch nicht angestrebt.

Der Höhepunkt war wohl die Verleihung des Hans-Reinhardt-Rings 1999?

Das war ein wunderbares Geschenk zum 25-jährigen Jubiläum. Das war phantastisch. Aber auch die Verleihung des Kunstpreises Basel-Stadt hat uns schier umgehauen.

Dieser Kunstpreis war ein Zeichen der Anerkennung. Aber eigentlich dauerte es sehr viele Jahre, bis der Kanton Sie finanziell anständig unterstützte. Das Vorstadttheater war nicht nur ein gutes, sondern auch ein mausarmes Kind. Dachten Sie nie daran, den Bettel hinzuwerfen?

Nein. Und erst recht nicht wegen des Geldes. Wir hatten zwei oder drei Krisen, die uns beinahe aus der Bahn warfen. Aber das waren inhaltliche oder menschliche Krisen innerhalb des Teams. Wenn es finanziell eng wurde, kämpften wir weiter. Wir merkten lange Zeit eigentlich gar nicht richtig, wie wenig Geld wir hatten. Wir hatten uns daran gewöhnt und nicht wirklich Zeit, nach links und rechts zu schauen, wie viel Geld andere verdienen. Die spätere Regierungsrätin Barbara Schneider, die 1987 bis 1992 in der Abteilung Kultur arbeitete, machte uns darauf aufmerksam, dass die Gagen, die wir zahlten und selber bezogen, viel zu tief lagen. Mit der Zeit merkten wir natürlich auch selber, dass wir Schwierigkeiten bekamen, für dieses Geld Leute engagieren zu können. Wir erhielten unsere Unterstützung anfänglich gar nicht aus dem Kulturbudget, sondern aus dem Topf des Sozialpädagogischen Dienstes. Dessen damaliger Leiter Franz Heini hatte uns toll unterstützt, aber sein finanzieller Spielraum war begrenzt. Es dauerte lange Zeit, bis sich die Einsicht durchsetzte, dass das Theater aus dem Kulturbudget finanziert werden sollte. Erst damit konnten unsere Förderbeiträge erhöht werden.

War es der Publikumserfolg, der Sie dazu antrieb, trotz finanziellen Nöten weiterzumachen?

Wir hatten nicht nur Erfolge. Ganz am Anfang schon, mit unseren ersten beiden Produktionen «Kikerikischte» und Hansjörg Schneiders «Robinson», der sogar vom Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde. Dann begannen wir auch etwas sprödere Projekte herauszubringen. Und schon kam die Leute mit der Bitte, ob wir nicht wieder so schöne Sachen spielen könnten wie zu Beginn. Aber wir wollten unseren eigenen Weg weiterverfolgen.



Szenenbild aus «Schildkrötenträume» (Regie: Beat Fäh) von 1988 mit den Theatergründern Gerd Imbsweiler und Ruth Oswalt sowie Chris Nonnast in der Mitte

Szenenbild aus «Schildkrötenträume» (Regie: Beat Fäh) von 1988 mit den Theatergründern Gerd Imbsweiler und Ruth Oswalt sowie Chris Nonnast in der Mitte (Bild: Claude Giger)

Das Vorstadttheater beziehungsweise die Spilkischte hat sich einen Namen gemacht als Theater, das mit anspruchsvollen Produktionen auf die Kinder zugeht. Meinen Sie das, wenn Sie spröde sagen?

Wir wollten nicht explizit spröde Produktionen herausbringen. Wir hatte unsere eigenen Vorstellungen von Theater und wir hatten Lust, Sachen zu machen, die man durchaus als spröde bezeichnen kann. Die Eltern, die mit ihren Kindern zu uns kamen, sagten dies, aus der Erwartung heraus, dass Kindertheater lustig und farbig sein muss. Wir aber haben andere Sachen gezeigt. Wir haben Aussenseitergeschichten auf die Bühne gebracht, wir haben auch aktuelle politische Themen wie die Schwarzenbach-Initiative (Anm. Initiative «gegen die Überfremdung und Überbevölkerung der Schweiz»), einfliessen lassen – natürlich nicht im Massstab eins zu eins, es ging uns um das Fremdsein im Land, um Fremdenfeindlichkeit. Wir stiessen mit unseren Produktionen zum Teil auch auf viel Ablehnung. Zum Beispiel 1988 mit der Produktion «Schildkrötenträume». Diese Produktion dauerte 55 Minuten, der Text hatte auf einer Seite Platz, Musik gab es gar keine. Die Erwachsene waren zum Teil empört, andere reagierten betrübt und mit Tränen in den Augen, während die allermeisten Kinder gar keine Probleme damit hatten und über das Geschehen auf der Bühne lachen konnten. Ich empfand es jeweils als Höhepunkt unserer Arbeit, wenn die Kinder ganz anders reagierten als die Erwachsenen.

Ihnen war es also vor allem wichtig, dass die Produktionen beim eigentlichen Zielpublikum, den Kindern, ankamen?

Das kann man nicht so sagen. Wir freuten uns, wenn die gesamte Stimmung im Theater toll war.

Ihre Theatersprache kam ja nicht nur beim Heimpublikum gut an, sondern auch auswärts. Dauerte es lange, bis die vielen Tournee-Einladungen kamen?

Wir haben bereits in unserer Anfangszeit viel auswärts gespielt, aber im näheren Umkreis, das heisst in Kirchgemeindehäusern, Turnhallen, Schulhäusern und so weiter. Später kamen dann Einladungen von Theatern in der Schweiz und in Deutschland. Es gab eine Zeit, als Gerd lediglich die Idee für eine Produktion anpreisen musste, um zu einem Gastspiel eingeladen zu werden. Das war eine tolle Zeit. Mit «Schildkrötenträume» waren wir sogar an einem Festival in Tunesien.

Sie haben 2007 aufgehört. Fiel es Ihnen schwer, Ihr Kind abzugeben?

Ziemlich schwer. Aber wir wussten natürlich, dass wir nicht ewig weitermachen konnten und haben uns auch aktiv darum bemüht, eine Nachfolge zu finden.

Sie haben schliesslich Nachfolger gefunden. Ist das Kind, das Sie grossgezogen haben, in guten Händen?

Die machen es toll. Sie bringen einen ganz anderen Theaterstil auf die Bühne, als wir dies taten, aber sie machen es sehr gut und mit viel Leidenschaft. Dass sie anderes Theater machen, ist völlig in Ordnung. Sie müssen ja ihre eigenen Ideen verwirklichen können.

Haben Sie manchmal Lust, wieder selber auf der Bühne des Vorstadttheaters zu stehen oder das Gefühl, eingreifen zu müssen?

Es gibt solche Momente. Wenn Gerd noch leben würde, könnte ich mir vorstellen, dass wir anlässlich des Jubiläums eine Produktion auf die Beine gestellt hätten. Ich bin sehr traurig, dass er den 40. Geburtstag seines Kindes nicht mitfeiern kann. Aber mich einmischen oder eingreifen, das mache ich nicht, das darf man nicht.

 

Jubiläumsproduktion

Zum Geburtstag verwandelt sich das Vorstadttheater Basel in einen Tanzsaal beziehungsweise in eine gute alte Disco, wo sich laut Stückbeschrieb seit über 40 Jahren die unterschiedlichsten Menschen treffen und auf den perfekten Abend hoffen. Mit der Jubiläumsproduktion «Kopf hoch, tanzen!» stemmt das kleine, aber feine Theater eine grosse Kiste auf die Bühne mit acht Schauspielerinnen und Schauspielern sowie einem Musiker. Premiere ist am Freitag, 24. Oktober. Bis am 16. November und zusätzlich in der Silvesternacht folgen weitere Vorstellungen. Einige davon sind bereits ausverkauft.

Am Sonntag, 2. November, hält Ruth Oswalt zusammen mit Weggefährtinnen und -gefährten Rückschau auf ihre bewegte und bewegende Zeit im Vorstadttheater. Und am 14. November findet im Anschluss an die Jubiläumsproduktion ein grosses Geburtstags-Tanzfest statt.

Mehr zur aktuellen Situation des Vorstadttheaters und über das heutige Team lesen Sie in der gedruckten Ausgabe.

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