Unsinn gibt es nicht

Vom 24. bis 26. Januar findet in Basel das Lyrikfestival statt. Das Besondere: Gestaltet wird es von einer Gruppe, die ihrerseits aus Dichtern besteht. Einer davon ist Rudolf Bussmann, mit dem wir über Lyrik und das nahende Festival gesprochen haben.

(Bild: Claude Giger)

Vom 24. bis 26. Januar findet in Basel das Lyrikfestival statt. Das Besondere: Gestaltet wird es von einer Gruppe, die ihrerseits aus Dichtern besteht. Einer davon ist Rudolf Bussmann, mit dem wir über Lyrik und das nahende Festival gesprochen haben.

Herr Bussmann, am Basler Lyrikfestival werden sowohl die Wahl des Lyrikpreisträgers als auch das gesamte Festivalprogramm von einer Gruppe aus Basler Dichtern besorgt. Sie bleiben unter sich?

Keineswegs, aber wir schalten nicht jemanden vor, der von Beruf Eventmanager ist. Die Gespräche mit den eingeladenen Lyrikern führen ebenfalls wir.

Lesungen, die von Leuten aus anderen Bereichen moderiert werden, sind häufig schwierig. 

Nicht unbedingt! Am Sonntag kommt der NZZ-Journalist Manfred Papst, am Freitag Abend Rafael Zehnder von Radio SRF. Sie beide haben das Gespür, die richtigen Fragen zu stellen. Aber es stimmt, wir kennen das Handwerk und die Schwierigkeiten, die es beim Schreiben gibt. Der Dichter steht beim Lyrikfestival nicht auf dem Podest, sondern wird als Kollege betrachtet. Wir kommen direkt zur Sache.

Es gibt gar nicht so viele Veranstaltungen am Lyrikfestival, etwa 14.

Ja, aber die sind sehr dicht. Wenn man das ganze Wochenende mitgeht, taucht man ganz in die Sprachwelt ein. Vor zwei Jahren passierte mir folgendes: Das Festival war zu Ende und wir wollten in der Kunsthalle noch etwas trinken gehen. Als Ortskundiger ging ich voran, aber ich fand den Weg nicht mehr. Ich kam von der dichten Atmosphäre des Worts und Gesprächs in eine Welt, in der ich mich nicht mehr zurechtfand. 

Klingt so, als wären die Diskussionen etwas weltfremd.

Nein, konzentriert. Ich war absorbiert. Bis jetzt waren immer Dichterinnen und Dichter unsere Gäste, die über ihre Arbeit intensiv sprechen konnten und auch wollten.

Zeichnet das die Lyrik gegenüber anderen Kunstformen aus?

Ich würde eher sagen, dass sich in den letzten 50 Jahren etwas geändert hat. Schriftsteller reden heute ohne weiteres über ihr Werk, während ich mich an viele Veranstaltungen in den 60er Jahren erinnere, wo nach der Lesung Schluss war. Siegfried Lenz zum Beispiel. Nicht, dass er sich dem Gespräch verweigert hätte, es war einfach nicht vorgesehen, dass man über die Lesung spricht. 

Umgekehrt lässt sich fragen: Reden wir nicht heute zuviel?

Das stimmt, oft bin ich glücklich ohne Gespräch. Es ist aber sinnvoll, die Lyrik, die oft als schwierig gilt, durch begleitende Gespräche zugänglich zu machen. Dahinter steht auch der Gedanke der Vermittlung. 

An wen richtet sich das Festival? 

An ein weit gefächertes Publikum. Mit dem Rapper Kutti MC, der am Freitag auftritt, richten wir uns klar an junge Leute. Am Samstagnachmittag eher an ein universitäres Publikum, da wird der Basler Germanistikprofessor Ralf Simon mit seinen Studierenden eine öffentliche Seminarsitzung abhalten. Der Samstagabend wird ein breites Publikum ansprechen. Dann findet die Vergabe des Lyrikpreises an Anja Utler statt und die bekannte japanisch-deutsche Autorin Yoko Tawada liest aus ihren Werken. Der Sonntagmorgen ist für ein Publikum, das Interesse an Grenzüberschreitungen hat: Lyrik in Kombination mit Fotografie und Video. Das Programm am Sonntagnachmittag entspricht dem Kern, der von den Anfängen des Lyrikfestivals her geblieben ist. Jeder aus der Lyrikgruppe lädt einen Autor seiner persönlichen Wahl ein. 

Rudolf Bussmann
wurde 1947 in Olten geboren und lebt als freier Schriftsteller in Basel. Er gehört der Basler Lyrikgruppe an, die seit 2003 Dichter von ausserhalb ans Lyrikfestival einlädt. Zuletzt erschien von ihm die Geschichtensammlung «Popcorn» beim Waldgut Verlag.

Vor allem experimentelle Lyriker? 

Es kommen sehr unterschiedliche Schreibarten zu Wort. Wir haben nicht alle dieselben Vorlieben.

Was ist experimentelle Lyrik?

Lyrik der Avantgarde zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht primär die Welt abbilden will. Der Zugang zur Welt ist nicht mehr mimetisch, sondern er kommt vom Wort her. Experimentelle Lyriker arbeiten häufig mit einem Konzept, das sie umzusetzen versuchen. Ein einfaches Beispiel ist die Überschreibung. Ein Hölderlingedicht wird der Arbeit zugrunde gelegt und der Dichter entscheidet sich, gewisse Worte aus dem Gedicht zu ersetzen, nehmen wir einmal an, er ersetzt alle Verben durch Verben aus dem Sport. Oder er ersetzt alle Substantive durch rhythmisch gleichklingende Wörter. Dann hat er ein vollkommen anderes Gedicht, aber der Rhythmus und die Strophen sind gleichgeblieben. Das ursprüngliche Gedicht ist für den Kenner wiedererkennbar – doch was kommt Neues dabei heraus? Meistens doch ein Text, der bestimmte Bilder, Gedanken, Emotionen abruft, weil jedes Wort seine kleine Welt in das Gedicht mitbringt. Bei dieser Art zu dichten führen durchaus auch Zufall und Spiel Regie. 

Experimentelle Lyrik riskiert den Unsinn? 

Nun, was ist Unsinn? Als Unsinn bezeichnen wir gerne das, was nicht der Logik entspricht oder was unsere herkömmliche Bildlichkeit stört.

Aber funktioniert Sprache nicht über Abmachungen, über konventionalisierte Formen?

Ja, die sind für die unmittelbare Verständigung unverzichtbar. Wenn ich sie durchbreche, entsteht Unsinn in Anführungszeichen, Nicht-Sinn – ich verstehe etwas nicht mehr. Das heisst aber nicht, dass das Gedicht nicht einen neuen Sinn in sich tragen kann. 

Es gibt also zwei Ebenen von Sinn. 

Es gibt die gesellschaftliche Konvention, die als Unsinn verurteilt, was nicht in ihr Konzept passt. Das Gedicht, und nicht nur das experimentelle, macht seinen Sinn selber. 

Heisst das, alles geht?

Nein. Es gibt schlechte Würfe. Vielleicht passt dem Dichter der Rhythmus nicht, vielleicht sucht er einen bestimmten Klang oder ein bestimmtes Bild. Experimentelle Dichter arbeiten genauso an ihren Werken wie herkömmliche Dichter. Nur die Gesetze, nach denen sie sich richten, sind anderer Art. Von Anja Utler gibt es einen Aufsatz, in dem sie über ihre Poetik Rechenschaft ablegt. Sie ist sich hoch bewusst, was sie macht. Wenn man ihre Gedichte liest, versteht man zunächst recht wenig. Man merkt aber, da sind ein starker Wille und Sprachgefühl am Werk. 

Viele Leute schreckt experimentelle Lyrik ab. Braucht es eine bestimmte Haltung, um Zugang zu finden?

Es braucht die Neugier, der Frage nachzugehen, warum die Worte so gesetzt sind und nicht anders. Die Gedichte verstossen gegen unsere Gewohnheit, über etwas zu reden. Das irritiert. Es braucht ein Flair, diese andere Art des Umgangs mit Sprache zu knacken. Wie einen Code. Das ist nicht jedermanns Sache. Aber wenn es gelingt, hat man grossen Genuss und erfährt viel über unsere Art zu sprechen.

Wer kommt denn so ans Festival? 

Yoko Tawada ist Japanerin und kam als junge Frau nach Europa. Viele ihrer Gedichte setzen sich mit der deutschen Sprache auseinander, die ganz anderen Gesetzen gehorcht als die japanische. Zum Beispiel fragt sie in einem Gedicht: Das Wort «er» hat ein Geschlecht, «sie» hat ein Geschlecht, aber «du» hat keines. Warum nicht?

Und Anja Utler, die Preisträgerin?

Ihre Lyrik muss man hören. Dabei gehen einem viele Dinge auf, die man beim Lesen nicht checkt. Einer ihrer Texte gibt das Gespräch zwischen einer Enkelin und ihrer Grossmutter wieder, die den Zweiten Weltkrieg miterlebt hat und nicht darüber spricht. Es geht um Sprachlosigkeit. Wenn man den Text liest, versteht man nur Bruchstücke. Wenn man ihn hingegen hört, meint man ein Tonband zu hören, das beschädigt ist. Der Text bricht immer wieder ab und setzt wieder ein. Auch wenn ich nichts mehr verstehe, weiss ich, da war mal ein Sinn. Das defekte Tonband ist eine Metapher für den Redefluss zwischen den Generationen, der unterbrochen ist. Es ist oft so in der zeitgenössischen Lyrik, dass ich das Gehörte hinzunehmen muss, damit sich das Geschriebene erschliesst. 

In ihren Anfängen existierte Lyrik sogar nur im Vortrag. 

Im Grunde ist es eine Rückbesinnung darauf, was Lyrik ursprünglich war. Kommt aber hinzu, dass man bei moderner Lyrik gezwungen ist, sich mit dem Medium auseinanderzusetzen, weil dieses nicht mehr nur dazu dient, Welt abzubilden.

Der mimetische Boden ist weggefallen.

Wie bei einem verfallenen Tempel. Hier hat es noch ein Kapitell, dort eine Treppe, die Bausteine sind noch da, aber der Tempel steht nicht mehr.

Warum eigentlich?

Weil unsere Welt nicht mehr als Tempel steht. Wir leben von Bausteinen und Zerfall. Wir haben kein schlüssig geformtes Weltbild mehr, keine Religion, die uns zusammenhält, keine politische Vorstellung, die alle einigt. Die Kunst trägt dem Rechnung. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg hiess es: Man kann keine Romane mehr schreiben. Dann schrieb Günter Grass seine «Blechtrommel» und es ging wieder. Seither ist der Roman das wichtigste literarische Format, auch für reflektierte Kunst.

Wir erleben das schon zum zweiten Mal. Bis in die 90er Jahre war der experimentelle Roman verbreitet. Dann begannen viele Autoren Romane zu schreiben, als hätte es vor ihnen keine Tradition gegeben. Mit einer Naivität und Hemdsärmlichkeit, die mich schockierte. Diese Generation brachte schwerelos etwas aufs Blatt, jenseits aller Reflexion über die Sprache. Nachher habe ich begriffen, dass dieser Neuanfang ein Befreiungsschlag war. Die Jungen sagten: Wir wollen wieder erzählen. Experiment und Reflexion interessieren uns nicht, wir wollen wieder eine Geschichte rüberbringen. Was wir jetzt haben, 2014, ist die Weiterentwicklung dieses Neuanfangs. 

Wo stehen wir heute?

Das ist schwer zu sagen, weil es vieles nebeneinander gibt. Vom hohen Ton bis zur flapsigen Rede, vom sprachlichen Experiment zur schlüssigen Geschichte. Für alle Spielformen des Schreibens scheint es auch ein Publikum zu geben.

Niemand sagt mehr: Das geht nicht!

Es herrscht die absolute Geschmacksfreiheit, und es gibt keine Zensur, die Publikation und Distribution regelt. Ausser der Zensur des Marktes.


11. Internationales Lyrikfestival Basel. 24. bis 26. Januar. Literaturhaus Basel.

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