Elektrobad aus Klang und Bild, Ehrfurcht wie an einem Gottesdienst: Kraftwerk spielten in ihrer Heimatstadt Düsseldorf ihren gesamten Katalog in 3D und – erstmals überhaupt – in Surroundsound.
Die Zukunft hatte ihre Chance. Doch irgendwie hat sie ihren Einsatz verpatzt. Wir Kinder der Siebziger träumten vom Beamen, Zeitreisen und Städten auf dem Mars. Verknüpft war das alles mit dem magischen Datum 2000, und die Musik dazu lieferte eine Band namens Kraftwerk. «Wir sind die Robotärrr», sangen wir, und sahen uns im neuen Millennium als Helden in einem Science-Fiction-Szenario. Pech gehabt: 2000 ist gerade Teenie geworden und schlägt sich ganz uncool mit Klimakollaps, Eurokrise und Shitstorms herum.
Trotzige Zeitlosigkeit
Fast unheimlich, dass die Musik von Kraftwerk noch immer gefeiert wird. Und das, wo ihre prophetischen Themen durch den Alltag banalisiert sind (Internetliebe, Computerüberwachung), andere Titelhelden ihrer Songs ausrangiert (Trans Europa-Express), des Dopings überführt (Tour de France) oder als Massenkiller entlarvt (Radioaktivität). Was ist also das Geheimnis ihrer trotzigen Zeitlosigkeit? Es lässt sich an ihrer Heimstatt ergründen, das erste Mal seit 22 Jahren. Auf dem Weg zum Kulturerbe präsentieren Kraftwerk in der Düsseldorfer Kunstsammlung NRW, wie vor einem Jahr schon im New Yorker MoMA, ihren gesamten, 2009 remastered veröffentlichten Katalog von «Autobahn» bis «Tour de France», mit den schon erprobten 3D-Animationen, doch zum allerersten Mal in Surroundsound.
Eingefunden hat sich überwiegend eine Männerwelt 40+ an diesem Abend, der dem Album «Menschmaschine» gewidmet ist. Hier und da stechen Grüppchen im Dresscode des Covers (schwarze Hose und Krawatte, rotes Hemd) heraus. Sie tragen ernste, würdevolle Mienen zur Schau. Ein paar junge, lautstarke Briten trinken Altbier – das gesamte Konzert hindurch werden sie raumgreifend raven, jede Synthmelodie mitsingen, angeregt plaudern. Für die meisten anderen beginnt mit der Ansage via Roboterstimme ein Gottesdienst. Sie erstarren in Ehrfurcht wie die Schaufensterpuppen aus dem Song ihrer Idole.
Die Menschmaschine in Surroundsound
Dabei menschelt es in dieser Maschine gleich zu Beginn ein wenig. Im hymnischen Titeltrack hinkt Ralf Hütter, einziger aus der Kernbesetzung Verbliebener, mit seinem Live-Vocoder dem Beat hinterher. Eine Randnotiz in der grandiosen Reizflut: Geometrische Körper stechen in den Zuschauerraum, eine Raumstation segelt dicht am Kopf vorbei und gemeinsam mit dem Elektroquartett taucht man zwischen graue Wolkenkratzerschluchten. Am Sound ihres Meilensteins haben Kraftwerk sachte aber wirksam die Stellschrauben gedreht: «Metropolis» gleitet in einen härteren 80er-Groove, «Das Model» ist deutlich fetter textiert und erhält von Hütter staccatohafte Vocals. Erst als Finale kommt das Roboterlied – mit organischer Tempogestaltung, mit peitschenden Techno-Improvisationen, mit kristallklarer Fraktierung der Maschinengeräusche auf die 24 Boxen.
Auflösung der Robotik
Auch die Best-Of-Zeitreise im zweiten Set profitiert von den räumlicheren Nuancen: Der «TEE» rauscht und seufzt mit mehr Industrialcharakter durch den Saal, splitterndes Glas bei den Schaufensterpuppen durchdringt jeden Quadratmeter. «Radioaktivität», nach Fukushima zum Fanal gegen Nuklearenergie umgetextet, steigert sich housig, während beklemmend die Geigerzähler um die Ohren fiepen. Doch bei aller digitaler Aufstockung, bei allem Raumklang: die Grundsubstanz der Songs wirkt weiterhin wie eine Urtinktur. Da geht viel auf das Konto der emblematischen Melodien, die – Myriaden von Coverversionen beweisen es – auch jenseits der Elektrosphäre funktionieren. Die höchste Konzentration an Bad aus Klang und Bild dann im «Planet der Visionen», der auch für die Technogeneration noch Massstäbe setzt. Hier ist sogar die heute schon staksig wirkende Robotik aufgelöst, als elastische Gitternetzmännchen agieren die Musiker in der Animation.
Psychedelia in der Pixelwelt
Grosse Eingriffe ins Drehbuch dann am Folgeabend mit der «Computerwelt»: Hier verschmelzen die einzelnen Tracks zu einer leitmotivischen Suite, während ein grandioses Farbenspiel aus Zahlen, Hüllkurven und Strichcodes im Raum oszilliert. Psychedelia ist in der Pixelwelt angekommen. Im «Taschenrechner» improvisiert Hütter mit Spass über «das kleine Musikstück», das der Musikant im Text spielt. Überhaupt wirken die Düsseldorfer Gigs fast handwerklich: Hinter ihren unergründlichen Audioaltären drehen, schieben und «zeichnen» die Musiker, wippen und grooven, konträr zu der Starre von einst. Beim Abgang spielt ein jeder tatsächlich sein Solo, tritt aus dem Kollektiv heraus: Fritz Hilpert, der Beatgeber, Henning Schmitz, der Tieftöner, Falk Grieffenhagen, der Videomann und der Melodiker Ralf Hütter.
Die zwei Stränge der deutschen Seele
Eine «industrielle Volksmusik» wolle er kreieren, hat Hütter einmal gesagt, aus dem Nichts der verlorenen kulturellen Identität der Nachkriegsgeneration. Die tanzenden Briten im Saal haben Kraftwerks Lieder auf ihre Art schon als neue German Folk-Attraktion angenommen. Für die Deutschen selbst, so schien es in Düsseldorf, bleiben sie auch nach Jahrzehnten etwas Mythisch-Romantisches. Doch genau in dieser Sphäre siedelt Volksmusik.
Wer in Hütters Gesicht schaute an diesen Abenden, sah nicht den Technokraten, sondern entdeckte auch den Empfindsamen. Im 21. Jahrhundert ist er eben im urbanen Raum anzutreffen, schwärmt mit milder Kopfstimme übers «Neonlicht», wärmt sich an den oftmals geradezu femininen Timbres der Synthesizer. Konsequenter als alle ihre elektronischen Nacheiferer hegen Kraftwerk an der Kreuzung von Utopie und Nostalgie die Poesie, haben die zwei zentralen Stränge der deutschen Seele, Präzision und Romantik verschmolzen. Genau das macht sie zeitlos, auch wenn die Zukunft eigentlich schon vorbei ist.