Romeo als illegaler Einwanderer, Julia als unglückliche Oberschichtstochter: Das Ballett des Theater Basel erzählt Shakespeares Tragödie «Roméo & Juliette» aus einer ungewohnt politischen Perspektive – und macht den Stoff damit brandaktuell.
«Romeo und Julia», jene weltberühmte Mär der vom Schicksal verfluchten Liebenden, ist seit Jahrzehnten für viele Ballettensembles ein sicherer Wert. Wen wunderts? Beim Zusammenspiel von Shakespeares zeitloser Liebesgeschichte – möglicherweise gar die zeitloseste Liebesgeschichte überhaupt – und der bewegenden Musik des russischen Komponisten Sergei Sergejewitsch Prokofjew (1891-1953) kann in der Wahrnehmung der meisten Regisseure nicht mehr viel schief gehen. Aber (in den Augen der undankbaren Kritiker) halt auch nicht mehr viel Neues passieren.
Politische Parabel
Oder doch? Man stelle sich vor, plötzlich käme jemand daher, um die Geschichte von Romeo und Julia nochmals völlig neu zu erzählen – nicht als tragische Verkettung unglücklicher Umstände und Zufälle, sondern als politische Parabel. Diesen jemand gibt es tatsächlich: Der französische Choreograph Angelin Preljocaj hat seiner Interpretation von «Roméo et Juliette» bereits 1990 in Lyon einen völlig neuen Dreh gegeben. Nun präsentiert er am Theater Basel eine brandaktuelle Fassung. Preljocajs Fassung entfernt sich dabei weit vom Herzschmerz einer Hollywood-Verfilmung, und damit auch von der Annahme, es handle sich beim Stoff um die grösste Liebesgeschichte aller Zeiten.
In seinem dystopisch anmutenden, in Wahrheit aber hyperrealistischen Setting, spielt sich das Drama in einer heruntergekommenen Fabrik ab: Hier verteidigen die Capulets ihre Vorherrschaft mit eiserner militärischer Disziplin. In fast nordkoreanischer Manier, nämlich mittels perfekt synchronisierter Paraden patrouillieren die Vertreter der Oberschicht über das Gelände, das von einem unheimlichen Wachturm dominiert wird (Bühne und Kostüme: Enki Bilal).
Militärische Machtdemonstration
Objekt und Opfer jener unheimlichen militärischen Machtdemonstration bilden die «Montagues»: mittellose, «illegale» Einwanderer, die wie Ratten in den Löchern und Ritzen der Ruinen hausen, und deshalb zur Zielscheibe werden. Es herrscht ein erbarmungsloser Krieg zwischen den beiden Klassen, der zu Beginn in akrobatischen, an Kampfsport erinnernden Bewegungsabläufen kulminiert: Tanzposen werden zu Kampfposen, Pirouetten und Sprünge mit Karatekicks kombiniert.
Mittendrin: Die schüchterne Capulet-Tochter Juliette (Mélissa Ligurgo), deren Unwohlsein und Unsicherheit fast schmerzhaft spürbar scheint – bis sie für Roméo (Javier Rodriguez Cobos) entflammt. Etwas zittrig setzt sie einen nackten Fuss vor den anderen, die Bewegungen wirken anfangs verhalten, ihr Ausdruck irritierend nüchtern. Als ob der totalitäre Gesellschaftszustand auch das letzte Fünkchen an kopfloser und heiterer Verliebtheit ausgemerzt hätte. Roméo wiederum ist von Anfang an von einer unbändigenden Vitalität beseelt, er ermordet auch mal einen Wächter, um seine Angebetete zu sehen.
Flirt mit dem Feuer
Während aus dem Flirt mit dem Feuer rasch handfeste Leidenschaft wird, sucht auch Roméos bester Freund Mercutio (mit Publilkumsliebling Roderick George perfekt besetzt) das Risiko, und fordert Tybalt (Sergio Bustinduy) heraus. Das Duell zwischen den beiden, bei dem vollendete Körperbeherrschung bis in die Finger- und Fussspitzen auf widerständige Energie und auf subversive Lebensfreude trifft, ist einer der absoluten Höhepunkte der Inszenierung.
So unterkühlt und menschenfeindlich Umfeld und Umwelt von Roméo und Juliette gezeichnet werden, so intensiv und unbarmherzig zeigt Preljocaj auch den Untergang des jungen Paars auf. Das Bett, Lokus der ersten Liebesnacht, ersetzt nicht nur die klassische Balkonszene, sondern wird schliesslich auch zur unzeitgemässen Gruft.
Bigotte Gesellschaft
Derweil die Streicher des Sinfonieorchesters (tadellos geleitet von David Garforth) ihre Instrumente zu Prokofjews stilbildenden Dissonanzen anschwellen lassen, werden wir Zeuge eines qualvoll langsamen, verzweifelten Totentanzes – nicht nur der Liebenden selbst, die sich in verzweifelten Zuckungen aneinander festkrallen, sondern indirekt auch der ganzen bigotten Gesellschaft, welche die aufkeimende Zuneigung zweier unschuldiger Jugendlicher mit dem Tod bestraft. Ob Mercutio, Roméo oder Juliette: Ihre Individualität bezahlen alle drei jungen Menschen mit dem eigenen Leben, das Verlangen nach Freihheit führt direkt und auswegslos zum Freitod.
Düstere Metapher
Fürwahr: Es ist ein wenig erbauliches Bild, das Preljocaj hier als Metapher der Gegenwart zeichnet. Dass eine derart düstere Inszenierung 90 Minuten am Stück zu fesseln vermag, ist Verdienst des tollen Ensembles, welches Ton, Bild und Tanz zu einem eindringlichen Ganzen zusammenfügt.
Dass das Premierenpublikum Preljocajs politische Perspektive bei deren Schweizer Erstaufführung mit langanhaltendem Applaus würdigte, bleibt wiederum zum Schluss immerhin als kleiner Hoffnungsschimmer zurück. Denn zu Zeiten, wo kindliche Opfer der Globalisierung auf hiesigen Magazintiteln zur anonymen Bedrohung stilisiert werden, ist diese «Roméo & Juliette»-Inszenierung als Schrei nach Liebe, als Plädoyer für mehr Menschlichkeit möglicherweise so dringlich und aktuell, so akkurat und nötig wie selten zuvor.
- Nächste Vorstellungen: 22.4., 29.4., 6.5., jeweils 19 Uhr. Theater Basel.