Voll behindert: Dieses Filmfestival bricht Tabus

Über Behinderung zu reden ist so eine Sache: Oft stehen Hemmungen im Weg und vor lauter Verunsicherung tappt man in die Mitleidsfalle. Doch es geht auch anders – das zeigt das Look & Roll Filmfestival.

Darf man eine Frau im Rollstuhl auf ihre Behinderung ansprechen? Im Film «Tatortreiniger: Fleischfresser», werden verschiedene Szenarien gezeigt.

Über Behinderung zu reden ist so eine Sache: Oft stehen Hemmungen im Weg und vor lauter Verunsicherung tappt man in die Mitleidsfalle. Doch es geht auch anders – das zeigt das Look & Roll Filmfestival, das heute Donnerstag startet.

Ein junges Paar befindet sich in einer Praxis. Vor ihnen sitzt ein Therapeut und betrachtet sie mit kritischem Blick. Er zögert, doch schliesslich wendet er sich dem Mann zu und sagt: «Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Sie bescheuert sind.» Der Mann schluckt. «Kann man das heilen?» Nein, leider gebe es bis heute keine wirksame Therapie.

Der Film «Diagnostic» nimmt eine therapeutische Sitzung und eine unangenehme Diagnose auf die Schippe. Am Look & Roll wird über so einiges gelacht: Depressive, Behinderte, alte Menschen. Darf man das? Wir stellen sechs unbequeme Fragen zum Look & Roll – ein Festival mit Kurzfilmen über Behinderung.

1) Brauchen wir wirklich ein Festival zum Thema Behinderung?

«Wieso sollten wir so ein Festival nicht brauchen?», fragt eine Besucherin. Die blinde Frau hat schon öfters Filme am Look & Roll gesehen und findet es sehr wichtig, dass es kulturelle Veranstaltungen zum Thema Behinderung gibt. Das Festival zeigt Filme, in denen sich depressive Menschen nach dem Tod sehnen, wie Bewohner eines Behindertenwohnheims ihre Sexualität ausleben oder wie sich ein Stotterer vor einem ersten Date fürchtet. Themen, die uns zu verstehen geben: Behinderte haben diesselben Probleme und Sorgen wie alle anderen auch.



Im Film «Diagnostic» stellt der Therapeut eine unangenehme Diagnose.

Im Film «Diagnostic» stellt der Therapeut eine unangenehme Diagnose. (Bild: Screenshot YouTube)

2) Aber sind diese Filmemacher nicht einfach Gutmenschen, die mit ihren Filmen soziale Projekte verwirklichen?

Viele Schweizer Filmemacher haben es noch nicht gemerkt: Behinderte müssen nicht bemitleidet werden. Zum Glück gibt es skandinavische, kanadische und englischsprachige Filmemacher, die mehr Mut zeigen. So zum Beispiel der Film «Prends-Moi», der von einem sogenannte «Intimzimmer» handelt, wo sich Bewohner eines Behindertenheims unter professioneller Aufsicht körperlich näher kommen können. «Solche Filme findet man in der Schweiz in der Regel einfach nicht», sagt Gerhard Protschka, Gründer und Leiter des Festivals. Der barmherzige Ansatz sei nicht zeitgemäss. Gerade in einer Gesellschaft, die auf Jugend, Dynamik und Schönheit getrimmt ist, sei es verhängnisvoll, auf Mitleid zu setzen, sagt er.

Protschka selbst hatte durch Zufälle immer wieder mit behinderten Menschen zu tun und arbeitete lange Zeit für «Procap», ein Verband für Menschen mit Behinderung. Im Jahr 2004 entschloss er sich dazu, das Filmfestival zum Thema Behinderung zu gründen.

3) Gehen denn nur Behinderte an dieses Festival?

Natürlich sind Menschen mit Behinderung ein grosses Zielpublikum: Das Look & Roll Filmfestival ist absolut barrierefrei. Der Kinosaal ist rollstuhlgängig und die Filme haben Untertitel und Kopfhörer mit Beschreibungen für Blinde.

Dieser Zugang ist wichtig: «Viele Menschen mit Behinderung haben vor allem wegen der mangelhaften Zugänglichkeit an Schulen und Hochschulen nicht die  Möglichkeit, ein Studium zu absolvieren. Kulturelle Angebote ermöglichen einen alternativen Zugang zu neuen Welten», sagt Protschka.

Aber: Die Geschichten betreffen keineswegs nur Behinderte. Das zeigt vor allem der Filmblock «Abend mit Goldrand» mit 12 Filmen zum Thema Alter. Dies mag auf den ersten Blick irritieren: Alt heisst doch nicht behindert? Doch tatsächliche kann der letzte Lebensabschnitt mit Bedürfnissen verbunden sein, die denen von Behinderten ähnlich sind. Und alt werden wir alle irgendwann.

4) Filme, in denen es nur um Behinderte geht – ist das nicht langweilig?

Schon klar, wer «Behinderung im Kurzfilm» hört, denkt sofort an langweilige Dokumentationen über das «fröhliche Leben im Behindertenwohnheim» oder übertriebene Dramen über arme Trisomie-Kinder. «Solche Klischees sind nach wie vor sehr präsent», weiss Protschka. Auch nach zehn Jahren Festival schreckt das Wort «Behinderung» auf den Plakaten potenzielle Besucher ab.

Dabei geht es am Festival doch um Sex, Tod und Tabus – Themen, welche die Weltliteratur schon immer bewegt haben. Warum sollte das langweilig sein, nur weil Behinderte darin vorkommen? In Filmen, wo es nur um alte, weisse Männer und blonde, dünne Frauen geht, wird einem ja auch nicht gleich langweilig, oder?




Gerhard Protschka: «Komödien können der Thematik manchmal ihre Bitterkeit nehmen, ohne dass sie deswegen respektlos sind.» (Bild: Nils Fisch)

5) Und darf man sich jetzt über Behinderte lustig machen?

Jein. Selbstverständlich ist ein böswilliges Auslachen völlig daneben. Bei Behinderten genauso wie bei Nicht-Behinderten. Aber im Film lachen wir über die Situationskomik, die oft direkt aus dem Leben gegriffen ist – und das ist erfrischend. «Komödien können der Thematik manchmal ihre Bitterkeit nehmen, ohne dass sie deswegen respektlos sind», so Protschka. Das schätzen auch Betroffene: Im Film «Tatortreiniger: Fleischfresser» begegnet ein ungeschickter Gebäudereiniger einer Frau im Rollstuhl und tritt in so manches Fettnäpfchen. «Ich habe den Film mit Leuten im Rollstuhl angesehen, die sich kaputt gelacht haben», erzählt Protschka.

Ausserdem: Das Festival zeigt mehr als nur lustige Geschichten – auch harte Kost wird behandelt und regt zum nachdenken an. Die niederländische Dokumentation «Ik laat je gaan» («Ich lasse dich gehen») handelt zum Beispiel von einer jungen Frau, die den Freitod wählt, um ihrer Depression zu entkommen.

6) Darf man eigentlich «behindert» sagen?

Ja. Das Wort klingt zwar doof und es kommt einem nur schwer über die Lippen. Dass es oft auch als Beleidigung verwendet wird, macht es nicht besser. Doch die Alternativen sind meistens noch dümmer: Beeinträchtigt, handicappiert, invalid – bescheuert? Nein, bleiben wir lieber beim «behindert.»

Sich politisch korrekt auszudrücken ist aufwändig, das weiss auch Protschka. Eine Universalregel gibt es nicht, auch die Betroffenen haben da verschiedene Ansichten. Doch wenn es ein Geheimrezept gibt, dann heisst es: Respekt. Eine tolerante Haltung «wird von Betroffenen in aller Regel wahrgenommen. So wird auch nicht jeder Ausdruck auf die Goldwaage gelegt», sagt Protschka. Trotzdem empfiehlt es sich, nicht ganz so ungefiltert wie der Therapeut im Film «Diagnostic» vorzugehen.
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Look & Roll Filmfestival, Kultkino Atelier, Theaterstrasse 7, Basel, 22.–25. September.

 

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