Vom Mahnmal zum Kinderschreck

Der Basler Totentanz war einst eine Attraktion für Gross und Klein. Heute sind vom monumentalen Gemälde nur noch minimale Reste übrig.

Am Anfang des Basler Totentanzes stand der Prediger. Zwei aufspielenden Todesfiguren folgte der Tanz, immer paarweise ein Tod und ein Mensch. Die Reihenfolge spiegelte die hierarchische Ordnung im Mittelalter: Den Beginn markierte der Papst, das Ende der (Bild: Foto: HMB Maurice Babey, Aquarell von Johann Rudolf Feyerabend (1705–1814))

Der Basler Totentanz war einst eine Attraktion für Gross und Klein. Heute sind vom monumentalen Gemälde nur noch minimale Reste übrig.

Dort, wo das 11er-Tram an der Station Universitätsspital in Richtung Innenstadt hält, befand sich bis 1805 die Friedhofsmauer des Dominikanerklosters. Heute steht vom Gebäudekomplex nur noch die Predigerkirche. Betrat man den Friedhof, erblickte man über vier Jahrhunderte lang unvermittelt einen etwa sechzig Meter langen Totentanz. Ein unbekannter Künstler hatte das Bild um 1440 auf die Innenseite der Mauer gemalt.

Zwei als Menschenleichen personifizierte Todesgestalten spielten trommelnd und pfeifend zum Tanz in den Tod auf. 37 lebensgrosse Tanzpaare, jedes aus einer Todesfigur und einem sterbenden Menschen bestehend, tanzten vor den Augen des Betrachters. Die todgeweihten Menschen waren mit Attributen ihres Standes oder Berufes gekennzeichnet: So trug der Kardinal den roten Ornat, der Papst die dreifache Krone (Tiara) und der Bauer den Dreschflegel. Ihre Reihenfolge spiegelte die spätmittelalterliche Gesellschaftsordnung; der Reigen wurde angeführt vom Papst, ihm folgten Kaiser, Kaiserin, König, Königin, Kardinal, Bischof, Herzog, Herzogin, Graf, Abt, Ritter, Jurist, Ratsherr, Chorherr, Arzt etc. Als letzte Person trat der Bauer auf, der auf der untersten Stufe der Hierarchie stand.

Der Basler Totentanz stellte keine Individuen, sondern Typen vor. Der Tod selber trat als verwesende Menschenleiche auf, von der nicht viel mehr als das Skelett übrig war. Es waren diese geschlechtslosen Todesfiguren, die agierten, tanzten und den Menschen manchmal frech die Attribute entrissen und sich selbst aufsetzten. Aufgeschlitzte Bäuche, herabhängende Fleischfetzen und kriechendes Gewürm erhöhten den Eindruck des Makabren. Ein einziges Mal trat ein klar weiblicher Tod auf; die Tanzpartnerin der Königin hatte baumelnde Brüste.

Die Bildaussage des Tanzes war einfach: Alle Menschen müssen sterben, der Tod trifft jede und jeden, ob Herr oder Knecht, ob arm oder reich. Niemand kennt seine Todesstunde. Der Totentanz visualisierte keine Lehre, keinen Glaubenssatz, sondern die einfache und täglich erfahrbare Tatsache, dass alles Leben endlich ist und der Tod alle abholt. Vor ihm schwinden Macht, Reichtum, Schönheit und Ordnung dahin. Er macht Hierarchien lächerlich, weil er sogar die Mächtigen und Reichen auf ihre Endlichkeit reduziert. Doch ist der Tod auch ein Gleichmacher, sind erst im Tod – nicht im Leben – alle gleich.

Der Totentanz stellte die hierarchische Gesellschaftsordnung des Mittelalters und der Renaissance nicht in Frage, sondern bekräftigte sie und vertröstete auf diese Gleichheit nach dem Tod. Die Übertragung des Gleichheitsmotivs vom Jenseits auf das Diesseits hätte dem Totentanz gesellschaftspolitische Sprengkraft verleihen können, doch die Hierarchie in dieser Welt ­wurde nicht hinterfragt, der Schritt von der Ständerevue zur Ständekritik wurde nicht vollzogen.

Machtstrukturen abgebildet

Der Tote­ntanz kritisierte den mittelalterlichen, hierarchischen Gesellschaftsaufbau nicht, er bildete ihn ab. Beklagt wurde nur das Versagen einzelner Menschen, die ihrer Pflicht nicht nachgekommen waren und ihre Talente vergeudet hatten.

Weil der Tod eine Grundtatsache des menschlichen Lebens ist, war die Darstellung des Sterbens aller Menschen in einem Totentanz ein ganz weltliches Thema. Die Funktion des Bildes an der Friedhofsmauer eines Klosters aber stand sehr im Dienste der Kirche. Der Totentanz wollte zu religiöser Busse und Umkehr aufrütteln. Er war eine gemalte Busspredigt, und auch der Basler Totentanz begann mit einem Predigtmotiv. Wahrscheinlich endete er auch damit, was wir heute nicht mehr wissen, weil der Totentanz über die Jahrhunderte mehrere Änderungen erfuhr.

Auftraggeber und Eigentümer waren im 15. Jahrhundert die Dominikaner. Ihr Ordensziel war kirchliche Verkündigung durch tätige Seelsorge. Predigen war für sie so wichtig, dass diese Tätigkeit namensgebend für den Orden – auch Predigerorden genannt – wurde. Der plakative Aufruf des Bildes zu religiöser Busse und Umkehr entsprach ganz seinem seelsorgerischen Ziel. Es ist somit kein Zufall, dass Totentänze besonders bei Predigerklöstern verbreitet waren – ausser in Basel auch in Bern, Konstanz, Strassburg und Landshut.

Mit der Reformation 1529 gingen Klostergebäude und Areal in städtischen Besitz über. Als im Jahre 1568 die erste überlieferte Renovation des Totentanzes anfiel, gab der restaurierende Künstler Hans Hug Kluber dem Prediger am Bildanfang die Züge des Basler Reformators Johannes Oekolampad. Nun mahnte der Vater der Basler Reformation zu religiöser Busse und Umkehr. Dieser Kunstgriff rettete die Funktion des Bildes als religiöses Mahnmal, und fortan war der Totentanz eine reformierte Busspredigt. Darüber hinaus machte das Bildnis Oekolampads den Totentanz zum frühesten Reformatorendenkmal Basels. Fremde, die Basel besuchten, besichtigten das Bild und schrieben in ihren Reiseberichten darüber. Der Totentanz war eine Sehenswürdigkeit, die kopiert wurde.

Am bekanntesten wurden die Kupferstiche von Matthäus Merian d. Ä. Merian löste den Bildfries in zahlreiche Kupferstiche auf, die er gebunden in Buchform herausgab. In einer Vorrede erklärte er, dass das Totentanzbild von einem der besten Künstler des 15. Jahrhunderts stamme. Mehr kann die Forschung auch heute nicht über den ursprünglichen Totentanzkünstler sagen. Merians Publikation erlebte viele Auflagen und machte den Basler Totentanz in ganz Europa berühmt.

Im 18. Jahrhundert liess das Interesse am Totentanz stark nach. Offenbar verlor das Bild seine Funktion als Mahnmal. Der Totentanz mit der Erinnerung an die Endlichkeit des Lebens bedeutete dem aufgeklärten Zeitalter nichts mehr. Die gemalte Busspredigt wurde als Relikt eines überwundenen Zeitalters betrachtet, galt als Kinderschreck und als Zeugnis des finsteren Mittelalters.

Bis zur Zerstörung des Totentanzes war es nur noch ein kleiner Schritt, der im Jahre 1805 vollzogen wurde: Die Friedhofsmauer wurde im Auftrag des städtischen Bauamtes abgerissen, der Totentanz zerstört. Einige Kunstfreunde retteten ein paar Fragmente, die später in öffentlichen Besitz gelangten. Dabei handelte es sich allerdings nur um Köpfe der dargestellten Stände, keine einzige Todfigur ist im Original erhalten geblieben. Was übrig ist, ist im Historischen Museum Basel ausgestellt. Dort kann das einst so berühmte religiöse Kunstwerk wieder als Sehenswürdigkeit bewundert werden.

Quellen

Totentanzspaziergang vom Historischen Museum Basel

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 09.03.12

Nächster Artikel