Von reichlich Substanzen bis reichlich Substanzmangel

Am Freitagabend zeigte sich auf dem Kasernenareal, wie hoch die musikalische Fallhöhe an einem Festival sein kann. Angesagt waren die Mark Lanegan Band, The Notwist und Little Dragon. Eine der Formationen war so schmackhaft wie Spaghetti ohne Sauce.

(Bild: Robin Trachsel)

Am Freitagabend zeigte sich auf dem Kasernenareal, wie hoch die musikalische Fallhöhe an einem Festival sein kann. Angesagt waren die Mark Lanegan Band, The Notwist und Little Dragon. Eine der Formationen war so schmackhaft wie Spaghetti ohne Sauce.

Wo immer Mark Lanegan den Sommer 2015 auch verbracht hat – er war nicht im mitteleuropäischen Raum. Oder zumindest nie an der Sonne. Der US-amerikanische Sänger, der den Grunge mit- und überlebt hat, tritt zum Auftakt des Open Air Basel so bleich auf die Bühne, dass man sich seiner Lebendigkeit erst gewahr werden muss. 

Wo geht es hier zum Keller?

(Bild: Robin Trachsel)

Der Mann kommt tatsächlich aus der Finsternis – erzählt mir Festivalleiter Sandro Bernasconi doch en passant die Anekdote, dass in Lanegans Tourbus die Klimaanlage ausgestiegen sei. Worauf der Sänger nach Ankunft auf dem Kasernenareal gefragt habe: «Wo geht es hier zum Keller?»

Aus den Tiefen kommt auch Lanegans Gesang, kommen seine Texte, die von einem Leben erzählen, das dem Tod mehrfach ins Auge geschaut hat. Schaurig und ergreifend sind die Songs, die der knorrige Mann vorträgt, während er sich an den Mikrofonständer klammert. Ein Bekannter, der Lanegan zum siebten Mal live sieht, meint, dass er ihn noch nie so vital erlebt habe. Tatsächlich sind da ein, zwei Ausfallschritte zu beobachten, ansonsten aber lässt er die Grooves seiner Band tanzen.

Cohen, Cave, Lanegan

Diese ist wunderbar eingespielt, changiert zwischen Americana, Blues, Rock und lässt auch mal einen Disco-Loop einfliessen – stets im Dienste des Songs. Besonders auffällig ist dabei die Souveränität der Leadgitarre, die herrlich soliert und bei Bedarf Hooklines hinzufügt, mal wie Peter Buck (im herrlichen «Grey Goes Black»), mal wie The Edge – allerdings klingt das dann nicht nach U2, sondern eher wie Bono im Methadonprogramm.

Denn Lanegans Stimme ist so eigen wie jene eines Leonard Cohen, Tom Waits oder Nick Cave. Das erzeugt in den grossartigsten Momenten eine hypnotische Atmosphäre, der man sich komplett hingeben muss – etwa im neueren Song «Dry Iced».

Nicht alle Songs mit elektronischen Anleihen begeistern dermassen, so hängt Lanegans Set auch einmal durch – als er sich von einer 80er-Synthie-Linie dazu berufen fühlt, seinen Bariton in höhere Lagen zu überführen («Ode to Sad Disco»). Das bekommt dem Lied nicht wirklich gut.

Ein Mann, den man umarmen möchte

Erfreulich dafür später sein überraschender Einbezug eines Joy-Division-Songs («Atmosphere») und der finale Schlussakzent mit dem mitreissenden «Methamphetamine Blues». Welch ein grosser Auftritt eines Mannes, den man umarmen möchte.  

Die Mark Lanegan Band als Festivalopener zu verpflichten, ist ein gelungener Schachzug, auch wenn manche seiner Fans der Ansicht sind, dass sein Auftritt bei Tageslicht verschenkt sei. Das Festivalteam setzt damit aber einen Akzent, der zur Ausrichtung passt – indem es sich als Liebhaber-Alternative zu den ganz Grossen in der Schweiz positioniert. Man mag einzig bedauern, dass der Publikumsbereich auf dem Areal bei Lanegans Auftritt noch sehr bescheiden gefüllt war.

Die älteren Brüder von Hot Chip

Vielleicht auch, weil die zugkräftigste Band erst danach auftritt: The Notwist aus Deutschland. Gerne erinnern wir uns an ihr Gastspiel vor rund 15 Jahren, damals im Innern der Kaserne. Jetzt kehrt die Gruppe zurück, hat die Gitarren zunehmend in den Club überführt und macht uns mit sanfter Stimme tanzen; Markus Acher klingt an diesem Abend noch stärker als sonst wie Neil Tennant von den Pet Shop Boys, der Notwist-Sound hingegen lässt sie eher als ältere Brüder von Hot Chip wirken. Wer erinnert sich nicht gerne an ihr rotes Album, «Neon Golden»?

Die Bayern reichen ihre analogen Instrumente mit viel digitalen Effekten an, bauen das Gros ihrer Songs zu Maxiversionen aus. Manche experimentellen Details, wie sie etwa durch den Einbezug eines Platteninstruments angestrebt werden, sind aus dem dichten Klangbild nicht mehr wirklich herauszuhören, manche Loops fast zu dominant.

Im Vordergrund aber steht spürbar die Leistung des Kollektivs, die Absicht, ihren Songs über das Popformat hinaus hypnotische Ausdruckskraft zu verleihen. Das gelingt ihnen durch kluge Arrangements sehr überzeugend, streckenweise auch mitreissend, allerdings wird man nicht so erschüttert wie bei Lanegan – und auf Dauer auch weniger überrascht, da die Extended Versions zur Regel erklärt werden.

Trotzdem demonstrieren auch The Notwist, dass sich ihre Musik hervorragend in die Gegenwart transportieren lässt.

Und, wie waren Deine Sommerferien?

Wer im Sog dieser zwei Konzerte noch gar nicht zum Socializing gekommen ist, der findet danach genügend Zeit. Denn die letzte Band des Abends ist so fürchterlich langweilig, dass man sich im Publikum bald gegenseitig die Frage stellt: «Und, wie waren Deine Sommerferien?»

Little Dragon aus Göteborg möchten krampfhaft eine Party lancieren, doch bereits ihr Auftakt misslingt: Das Gesangsmik ist nicht aufgedreht – und als die Stimme von Sängerin Yukimi Nagano dann zu hören ist, wünscht man sie sich eigentlich schon wieder weg. Da ist keine Tiefe drin, sie klingt wie eine Froschversion von Madonna, nur leider ohne deren Ohrwurmqualitäten.

So bereichernd wie das letzte Katzenvideo Deiner Wahl

Rasch zeigt sich: Dieses schwedische Quartett macht Elektropop der liveuntauglichen Sorte, es zaubert ein riesiges Nichts auf das Areal. Völlig substanzfrei und so bereichernd wie das letzte Katzenvideo Deiner Wahl.

(Bild: Robin Trachsel)

Das auffälligste ist das visuelle Erscheinungsbild: Sängerin Yukimi Nagano tritt in einem Kleid auf, das entweder eine Schwangerschaft kaschieren oder ihren björkesken Modegeschmack betonen soll. Am Bass ein Homie, an den Synthies ein Chewbacca-Hipster. Schade, haben sie für ihr Klangbild nicht denselben Aufwand betrieben wie für ihr Erscheinungsbild.   

Ihr elektronisch gefärbter Pop erweist sich als so geschmackvoll wie Spaghetti ohne Sauce. Da bevorzugen wir die Festivalpizza Prosciutto senza Schinken (der Foodstand hat offenbar mit weniger Besuchern gerechnet) und schliessen uns noch vor Konzertende den zahlreichen Besucherinnen und Besuchern an, die das Festivalgelände verlassen, um dem inhaltsleeren Discopop-Gedöns zu entfliehen.

Draussen, vor dem Tor, ist die Einsicht gross: Der Abend, der mit Mark Lanegans beseelter Grandezza begann, endet mit einer überhypten Band in Belanglosigkeit. So hoch kann die Fallhöhe an einem Festival sein.  

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Heute Samstag am Open Air Basel:  Maribou State Live, Michael Kiwanuka, SOHN

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