Zum ausverkauften Auftakt der ersten Basler Dokumentartage inszenierte die deutsche Gruppe «She She Pop» die geteilte Geschichte Deutschlands als rasante Pop-Revue mit Tiefgang: Die Wende wird dabei aus der subjektiven Sicht von sechs Frauen rekonstruiert – und mutiert zum hintergründig-vielschichtigen Sittengemälde.
«Dokumentarisches Theater», das klingt zunächst nach schwerer Kost, böse Zungen könnnten sogar meinen: nach bemühter sozialkritischer Milieu-Studie aus Gutmenschen-Sicht. Umso mehr, wenn sich ein Stück als feministische Perspektive auf die Geschichte eines geteilten Landes versteht. Doch derartige Sorgen erweisen sich zum Glück sofort als unbegründet, sobald die sechs Schauspielerinnen, pardon: «Performerinnen», der Berliner Gruppe «She She Pop» zum Auftakt der ersten Basler Dokumentartage in der ausverkauften Kaserne zum diskursiven Spektakel ansetzen.
Denn «Schubladen», wie der Titel ihrer aktuellen Produktion lautet, ist in erster Linie ein rasanter Reigen durch die jüngere deutsche Vergangenheit, und die Protagonistinnen Annett und Johanna, Alexandra und Berit, Wenke und Ilia spielen anstelle konstruierter oder klischierter Rollenbilder schlicht – sich selbst. An drei Tischen sitzen sich die Damen gegenüber, gewappnet mit allerlei Dokumentation ihrer eigenen Lebensgeschichten, und breiten ihre eigene Biographie im Streitgespräch mit ihrem Gegenüber als wie detaillierter aus.
Kreuzverhör um Kopf und Kragen
Typische Anekdoten aus der eigenen Kindheit und Jugend werden hier mit pointierter Spitze oder träfem Sarkasmus serviert, wahlweise mit Verve oder Wut vorgetragen und mit den Geschichten der Tischnachbarin kontrastiert. Aus der Vielzahl an Erinnerungen, aus Tagebüchern, Briefen und alten Lieblingsplatten, entsteht so zunehmend ein mosaikartiges Sittengemälde der jeweiligen familiären Mikrokosmen beider Länder, lassen die sechs Frauen klassische Stationen der Sozialisation innerhalb der DDR wie BRD Revue passieren, wobei pflichtgetreue Unterordnung unters sozialistische Arbeiterziel auf das biedere Ideal der Wirtschaftswunder-Kleinfamilie prallen, FKK-Ferienerlebnisse auf frühe feministische Erweckungserfahrungen, allgegenwärtige Angst vor Stasi-Spitzeln auf zwanghafte, pro-kapitalistische Konsum-Haltung.
Den provokanten Fragen ihres weiblichen Gegenübers im Kreuzverhör bewusst ausgeliefert (unterstützt vom auf die dahinter liegende Leinwand projizierten Close-Up via Camcorder) reden und rechtfertigen sich die Protagonistinnen um Kopf und Kragen, offenbaren Leerstellen und Widersprüche ihrer eigenen Identität und zeigen die tragikomische Tragweite unseres eigenen Schubladendenkens unbarmherzig auf: «Gesinnungsterror», so viel wird anhand der Fülle von Einzelschicksalen schnell klar, herrschte auf beiden Seiten, die angestrebte Lebensfreiheit blieb hüben wie drüben klar begrenzte Utopie.
Feministische Feminimus-Kritik ohne «Frau»
Schallendes Gelächter und betretene Stille wechseln sich auch beim Kasernen-Publikum in Sekundenschnelle ab: Denn die «Echtheit» der erzählten Erlebnisse und das authentische Spiel von «She She Pop» fordern in dieser höchst subjektiven, sechsfachen Retrospektive auf die Geschehnisse rund um den kathartischen Wendepunkt des Mauerfalls auch von den Zuschauern selbst, stets aufs Neue Partei zu ergreifen. Damit gelingt dem Kollektiv gleichzeitig auch das Kunststück, die feministische Kritik an Gesellschafts- und Identitätspolitik, die dem Stück zugrunde liegt, unauffällig aber effektiv auf mehrere Ebenen zu verteilen: Diese steckt sowohl in den subjektiven Erfahrungen wie auch in deren narrativer Wiedergabe, in den konfrontativen Dialogen als auch den kritischen Bilanzierungen, in der dezidiert weiblichen Perspektive aufs Gesamtgeschehen sowie schliesslich, als dahinterliegende «Metaebene», in der feministischen Kritik des Feminismus selbst: einem Feminismus, der heute kein fixes Subjekt, keine stabile Identität mehr voraussetzen kann, und statt einer vermeintlich authentischen «Stimme der Frau» den Raum für viele verschiedene Frauenstimmen öffnen muss.
Genau diese aus dem vielstimmigen Chor der agierenden Frauen entstehende Vielschichtigkeit, gepaart mit der Fülle der auf das Publikum einprasselnden Informationen, macht die Inszenierung allerdings trotz aller poppigen Verpackung, trotz Tempo und Spielwitz – oder gerade deshalb – mit der Zeit zunehmend anstrengend. Ob bewusst kalkuliert oder schlicht in Kauf genommen: Am Ende der 120 Minuten schwirrt einem ob all der in Dialogform wiedergegebenen Geschehnisse schlicht der Kopf, sinkt man ermattet in den eigenen Sitz zurück – und wartet vergeblich aufs erlösende Happy End. Wie auch? Das Stück mag irgendwann zuende sein, die Lebensgeschichte der Selbst-Darstellerinnen ist es deshalb ja noch lange nicht. Die Realität, so das vorläufige Festivalfazit, ist nun mal komplexer und widersprüchlicher als die gängigen dramaturgischen Kniffe und Theater-Konventionen – aber dafür mindestens so aufregend.
- «Schubladen», zweite Aufführung heute Donnerstag, 18.04., 20 Uhr, Reithalle Kaserne. Das weitere Festivalprogramm der Dokumentartage befindet sich hier: It’s the Real Thing.