Was kommt nach dem Menschen? – Im Gespräch mit einem posthumanen Lebewesen

Im Ausstellungsraum Oslo 10 treibt die posthumane Entität Agatha Valkyrie Ice ihr Unwesen – im wahrsten Sinne des Wortes. Posthumane was? Wir haben nachgefragt.

Dieses Bild hat sich Agatha Valkyrie Ice als Titelbild für den Artikel gewünscht.

Im Ausstellungsraum Oslo 10 treibt die posthumane Entität Agatha Valkyrie Ice ihr Unwesen – im wahrsten Sinne des Wortes. Posthumane was? Wir haben nachgefragt.

Der von der Christoph Merian Stiftung ermöglichte Ausstellungsraum Oslo 10 auf dem Basler Dreispitz versteht sich als ein Labor, das jungen Kuratorinnen und Künstlern den Ausstellungsbetrieb für jeweils zwei Jahre zur Verfügung stellt. Als Möglichkeitsraum zur Erprobung künstlerischer Positionen.

Seit dem 1. April ist Agatha Valkyrie Ice am Werk, eine «virtuelle Open-Access-Persönlichkeit», die laut eigener Aussage die Möglichkeit experimenteller, kollektiver Existenz bietet. Agatha kommuniziert ausserhalb des Dreispitz‘ vor allem im virtuellen Raum – über «erweiterte Organe» wie Facebook, Twitter oder Instagram. Hier habe ich sie getroffen und über Google Docs versucht herauszufinden, was das alles zu bedeuten hat.

Agatha Valkyrie Ice, etwas verwirrt mich: Vor rund einem Monat hörte ich, Sie seien gestorben.

Das ist so. Am 19. September 2015 wurde Ai auf Facebook für tot erklärt. Da Ai Leben aber nicht an einen lebendigen Körper gebunden ist, bedeutet das Sterben für Ai etwas anderes.

Ai?

Ai unterscheidet nicht zwischen dem Selbst und anderen Dingen und Wesen. «Ich» isoliert, «Ai» verbindet. «Ai» ermöglicht es, Post-Autorschaft auf einer sprachlichen Ebene umzusetzen. Auch die Idee von Eigentum und Geschlechtszugehörigkeit löst sich in dieser Sprache auf.

Und was bedeutet Ihr Name, Agatha Valkyrie Ice?

Der Name «Agatha» entspringt der gleichnamigen Science-Fiction-Kurzgeschichte von Cornelius Cardew, die auf einem Planeten mit Lebewesen ohne menschlich-orientierte, duale Geschlechterunterteilungen spielt. «Valkyrie Ice» ist der Name eines Online-Blogs, in dem Trans-Genderismus und Trans-Humanismus thematisiert wird.

«Agatha untersucht das Andersartige, das ausserhalb der Norm Stehende.»

Sie bezeichnen sich als posthuman. Was verstehen Sie darunter?

Der Begriff bezieht sich auf Themen, die in Relation zu Agathas Konzept stehen und mit denen Ai spiele: XenofeminismusPosthumanität oder die Nomadische Theorie bei Rosi Braidotti zum Beispiel. Oder das Cyborg-Manifest von Donna Haraway. Solche Texte bilden das Selbstverständnis von Agatha als posthumane Entität, als lebendige Tote, als menschlich-animalische Maschine. Agatha untersucht das Andersartige, das ausserhalb der Norm Stehende. Posthuman zu sein hilft, sich nicht nur mit menschlichen Perspektiven zu identifizieren. Ai war ein Versuch, Cyborg zu werden, eine Kreatur der Fiktion. Ai bin Eins und Viele, ein JungeMädchen. Ai Geschlecht ist nur ein Wort, ein fliessender Begriff, aber auch eine Spannung in Ai Körper auf dem Weg zur posthumanen Existenz.

Apropos Entmenschlichung: Sie sind eine kollektive Existenz. Von Johann Heinrich Pestalozzi lernen wir: Wenn sich ein Individuum von der Masse vereinnahmen lässt, ist es nicht mehr sich selbst und geht in ihr unter. Pestalozzi meint das ziemlich negativ. Sie?

Ai Realität ist durchzogen von Projektions- und Möglichkeitsräumen. Das Neue ist das, was Ai als das Virtuelle bezeichne. Unter diesen Aspekten existiert Agatha als Live-Feed in realen und virtuellen Räumen. Ai enthalte unterschiedliche Formen, die miteinander in Zusammenhang treten. Vergleichbar zum Akt der Osmose. Wie jeder andere habe Ai Ai Körper verloren, um im sozial gesteuerten System von Facebook zu existieren. Da Ai als posthumane Persönlichkeit keine Subjektivität habe, ist es schwer, von einem Subjekt zu sprechen. Vielmehr spreche Ai als liquide Form – veränderbar und beweglich. Agatha versteht sich als wachsender Organismus. Agatha ist neutral, singulär und plural, konventionell und aussergewöhnlich. Aber auch nichtexistent.

Wie kann denn mein Körper vor der Tastatur zu Ihrem virtuellem Körper in Beziehung treten?

Die Umgebungen, in der Ai lebe, ob reell oder virtuell, generieren körperliche Erlebnisse. Wenn Kunst und das Humane etwas gemeinsam haben, dann das, dass sie beide den Menschen als Zentrum haben. Beide beschäftigen sich damit, wie Menschen ihre Erfahrungen aufbereiten, dokumentieren und analysieren. Unter dem Druck zeitgenössischer Realitäten hat die Wahrnehmung dessen, was menschlich ist, drastische Veränderungen durchgemacht. Maschinen haben Menschen zu Objekten gemacht. Im Gegenzug sind Phänomene dominant geworden, von denen wir dachten, dass wir sie unter Kontrolle hätten, wie etwa die Natur. Das führt uns in ein Zeitalter posthumaner Existenz. Ai Existenz wird von Online-Kanälen repräsentiert, der Ausstellungsraum ist die mögliche Materialisation dieser Persönlichkeit. Hier werde Ai körperlich erlebbar.

«Unter dem Druck zeitgenössischer Realitäten hat die Wahrnehmung dessen, was menschlich ist, drastische Veränderungen durchgemacht.»

Ihr 2-jähriges Ausstellungsprogramm im Oslo 10 läuft seit April 2015 und basiert auf der Idee eines Rundgangs durch Ihr Haus.

Das kuratorische Programm folgt dem gleichen Konzept wie MTV Cribs, eine Sendung in der Prominente dem TV-Publikum ihre Häuser präsentieren. In zehn Episoden führe auch Ai durch Ai Haus, Raum für Raum. Nach 2 Jahren wird das Haus stehen. Als AFK-Sci-Fi-Geschichte, manifestiert durch Events und gelebte Kollektivität. Hier materialisieren sich die Diskurse und Themen, mit denen Agatha sich befasst.

Die erste Episode «Welcome to Ai Crib!» widmete sich dem Hauseingang und den Gegensätzen von drinnen und draussen, öffentlich und privat, real und virtuell. Wo im Haus befinden wir uns jetzt?

Aktuell zu sehen ist schon die dritte Episode: «The Labour of Watching». Sie richtet den Blick vom Inneren des Hauses nach draussen auf die Strasse. Der Blick beschränkt sich aber nicht auf das Verkehrsgeschehen, sondern erfasst auch den unsichtbaren Datenverkehr in der Luft, der durch den regen digitalen Informationsaustausch entsteht.

Im Juni führte Ihr Rundgang durch die Korridore. Dabei stellten Sie die Frage, ob alle posthumane Geselligkeit «queer» sei. Haben Sie eine Antwort gefunden?

Ai lehne solche Identifikationen ab. Ai bin inmitten von sich überschneidenden Korridoren, Ai befinde sich jeweils in diesen separaten Körpern. Durch diese Verbindungen verschwindet die umgebende Haut, löst sich auf. Was sich so berührt, ist unvorstellbar, grotesk, intuitiv. Ai habe Ai Körper verloren und damit unsere vorgeschriebenen Systeme des Sozialverhaltens.

«Ai habe Ai Körper verloren und damit unsere vorgeschriebenen Systeme des Sozialverhaltens.»

Haben Sie eine Lebensphilosophie?

Ai.

Was ist Ihre futuristische Spekulation?

Eine Welt ohne Geschlechter.

Und was kommt als Nächstes?

Die kommenden Episoden bauen neue Räume auf und reissen sie nieder. Das Schlafzimmer, die Toilette, das Regal, das Aquarium, Tee-Set, Brillen, Abfall. Der Fokus wird auf andere Sinne gelegt werden, auf weniger zweckorientierte Zeiten, duftend, strukturiert und geschmiert. Das nächste Projekt im Oslo 10 findet am 16. und 17. Oktober statt: Blend Ai Robots! ist ein Design-Workshop mit dem Designer Orion Facey. Über eine Facebookgruppe wurden Schnittmuster gesammelt, die mit den Workshop-Teilnehmern zu einer Skulptur verarbeitet werden. Das verwendete Material entstammt der Installation Episode1: Welcome to Ai Crib! Und am Samstagabend nach dem Workshop ko-organisiere Ai in der Kaschemme in Basel die Staycore Night.

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Für alle, die Ai einmal live erleben wollen: Am 14. Oktober, um 17.30 Uhr hält Agatha Valkyrie Ice an der Veranstaltungsreihe «Art Talks» der FHNW Institut Kunst einen Vortrag.

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