Was macht eigentlich Evgeny Kissin?

Der russische Pianist mit dem Afro war in den 1990er-Jahren ein aufgehender Stern. Seitdem hat man wenig von ihm mitbekommen. Warum, konnte man am Dienstag im Stadtcasino Basel hören.

Der Pianist Evgeny Kissin. (Bild: F. Broede)

Der russische Pianist mit dem Afro war in den 1990er-Jahren ein aufgehender Stern. Seitdem hat man wenig von ihm mitbekommen. Warum, konnte man am Dienstag im Stadtcasino Basel hören.




(Bild: F. Broede)

Evgeny Kissin war nie gross. Vielleicht würde er es werden. Herbert von Karajan hat ihn 1988 «entdeckt», wie zuvor schon Anne Sophie Mutter. Kissin hat mit den Berliner Philharmonikern gespielt, dann bald in der Carnegie Hall.

Es gab die Aufnahmen, auf deren Cover der junge Kissin mit den sinnlichen Lippen zu sehen war, zum Beispiel die mit Beethovens Mondscheinsonate. Im dritten Satz war Kissin eine Entfesselung. Stark und klar, ohne Hindernis. (Es gibt die Aufnahme auf Youtube). Im Kanon war er noch nicht angekommen, aber dafür war noch reichlich Zeit.

Jetzt stand der 43-Jährige für Dienstag auf dem Programm der Allgemeinen Musikgesellschaft (wie vor zwei Jahren schon mal), und es hatte etwas von einem Ruf aus einer alten Zeit. Was ist aus seinem Spiel geworden?

Kissin betritt die Bühne, nimmt Platz, stürzt sich in eine Buckelposition und in die klopfenden Achtel von Beethovens Waldstein-Sonate. Er hat es eilig, mit der Musik in Kontakt zu kommen, als würde er befürchten, dass Beethoven ihm davonhuschen könnte. Er spielt wie ein Getriebener und verwischt dabei die Details – kantig, schwer zu folgen.

Was ein Musiker weiss

Der zweite Satz verklingt statisch. Zwei Verspieler sind drin, an ganz einfachen Stellen. Was eigentlich völlig unwichtig ist, aber was sagt es über Kissins Befindlichkeit im Stück aus?

Der Jazzpianist Michel Petrucciani hat in einem Interview gesagt: Je länger er mit anderen Musikern zusammenspiele, desto weniger interessiere ihn, wie gut einer spiele, sondern was ein Musiker weiss. Genau dieses Wissen darum, um welche Geste es gerade in der Musik geht, ist bei Kissin nur selten zu hören. Er scheint ratlos in der Musik zu schweben, findet keine Richtung, kommt nicht ins Erzählen.

Der Schluss der Sonate, mit dem Thema im doppelten Tempo, ist plötzlich brilliant. Schlicht, durchlässig. Woher nimmt er das jetzt? Kissin, scheint es, ist an diesem Abend ein Mann für die letzten Meter.

Am Ende eine Überraschung

Dasselbe passiert bei einem Chopin-Nocturne, von denen er nach der Pause drei spielt. Wieder weiss er bei diesen letzten Tönen ganz genau, wohin er gehen will. Sofort wird man im Zuhörerstuhl leicht und geht mit dem Zentrum von der Lehne auf die Kante. Bis dahin jedoch: übergestaltete Themen, gebremster Fluss, unsubtile Bässe, nichts will richtig zusammengehen. Das Sitzen wird inzwischen anstrengend.

Die Mazurken von Chopin, die er jetzt anfügt, sind in ihrer Form so einfach, dass sie nur bei ganz grosser Beweglichkeit des Spielers interessant zum Hören wären. Und wer hat jetzt noch Ohren für die Ungarische Rhapsodie Nr. 15 von Liszt, im Programm angekündigt als das grosse Finale des Abends? Wahrscheinlich hat Kissin sie kompetent virtuos bewältigt, aber der Eindruck rauscht mehr oder weniger an den Ohren vorbei. Schliesslich sind wir entlassen.

Aber dann kommt es nochmal ganz anders. Das Publikum, von dem man jetzt einen entschieden labbrigen Applaus gebraucht hätte, erhebt sich zum Beifall, der ganze Saal ist am Feiern. Und das, obwohl während des Vortrags keinerlei Spannung beim Publikum entstanden war. Kissin findet das natürlich gut (ob er zufrieden war?) und gibt zwei Zugaben. Grosses Rätsel.

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