Manche Geschichten sind so alt wie die Menschheit selbst. Eine Neandertalerin sitzt auf der Parkbank und weint in ihr Handy. Sie will nicht, dass ihr Familiengeheimnis ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wird – eine berührende Geschichte über Liebe, Verrat und das Verwirrendste überhaupt: die eigene Herkunft.
Erst nach geraumer Zeit bemerkt das fellbehangene Wesen die Blicke der Passanten und flüchtet zurück in den Umkleideraum eines Filmstudios, wo unter dem strähnigen Haar und dem dicken Make-up das Gesicht der Schauspielerin («Splice») und Filmemacherin («Take This Waltz») Sarah Polley zum Vorschein kommt. Durch den Anruf eines Enthüllungsjournalisten aufgeschreckt, war die kanadische Schauspielerin von einem Dreh direkt auf die Strasse gelaufen.
Die grosse Unbekannte
Im Dokumentarfilm «Stories We Tell» unternimmt die 35-jährige Regisseurin nun den Versuch, dieses Familiengeheimnis aufzuarbeiten: nicht aus Eitelkeit, sondern aus Interesse daran, wie und was wir über unser Leben erzählen. Sie spricht mit ihrem Vater, ihren Geschwistern und Halbgeschwistern, Freunden und Arbeitskollegen ihrer Eltern, die alle mehr oder weniger ausführlich Auskunft geben über die grosse, schmerzlich vermisste Unbekannte in Sarah Polleys Leben: ihre Mutter. Diane Polley verstarb, als Sarah elf Jahre alt war.
Alles fing mit einem Scherz an, den Polleys Geschwister jeweils am Esstisch zum Besten gaben und der in der Wiederholung nichts von seiner Irritation verlor: Wie wenig die junge Sarah ihrem Vater Michael nämlich ähnlich sah. Zur Neckerei kamen die Gerüchte: Die in zweiter Ehe verheiratete, lebenshungrige Diane – eine Schauspielerin wie Sarahs Vater Michael – war kurz vor ihrer Geburt an einem Theater in Montreal engagiert gewesen. Hatte sie sich dabei vielleicht nicht nur in eine Rolle verliebt?
Das Recht auf Widersprüchlichkeit
Polley begibt sich auf Spurensuche, und wie sich nach Jahrzehnten des Zweifels das Rätsel um ihre Herkunft in Melancholie und Heiterkeit auflöst, ist in seiner emotionalen Vielschichtigkeit schlicht umwerfend: So eine Geschichte kann sich nur die Wirklichkeit ausdenken, wenn sie wie im Fall der Polleys einen professionellen Umgang mit der Fiktion pflegt.
Zugleich hinterfragt der Dokumentarfilm die Bedingungen seiner eigenen Entstehung. Wie authentisch ist die Biografie eines Menschen, die aus den Worten anderer besteht? Und wer kann für sich die Deutungshoheit über ein Leben beanspruchen, das nicht das eigene ist? Polley setzt in ihrer Hommage an die eigene Mutter auf Vielstimmigkeit, auf das Recht von Widersprüchlichkeit auch, dem kein DNA-Test gerecht wird.
Verdächtig glatte Bilder
Auch «The Reunion» kämpft um die Deutungshoheit über Ereignisse, die in der Vergangenheit liegen, wenn visuell zunächst auch wenig auf einen dokumentarischen Anspruch hinweist. Wo Sarah Polley den Gattungsbegriff mit bröseligen Super8-Aufnahmen gleichzeitig bekräftigt und infrage stellt, wartet die schwedische Regiedebütantin Anna Odell mit verdächtig glatten Fernsehbildern auf.
Die Regisseurin besucht nach 20 Jahren ein Klassentreffen. Doch die Wiedersehensfreude wird getrübt: Anna hält eine Tischrede, die der versammelten Festgemeinschaft sauer aufstösst. Anstatt in sentimentalen Jugenderinnerungen zu schwelgen, beschuldigt Odell ihre ehemaligen Klassenkameraden des Mobbings – sie sei ausgegrenzt, herumgeschubst und verspottet worden. «Ich würde mich umbringen, wenn ich so aussähe wie du», bekam die Aussenseiterin regelmässig zu hören.
Der Abend endet in einem Handgemenge, Anna wird gewaltsam aus der Runde entfernt: Man fühlt sich an Thomas Vinterbergs verwackeltes Dogma-Drama «Festen» erinnert, in dem eine Familienfeier von jahrelang verdrängten Schuldgefühlen eingeholt und ins Chaos gestürzt wird. Doch kaum scheint die erzählerische Eskalationslinie festgelegt, ändert «The Reunion» seine Gangart.
Schillernde Mischform
Das geplatzte Fest gibt sich unvermittelt als Fiktion mit einem wahren Kern zu erkennen: Zwar war Anna Odell tatsächlich das Opfer von Mobbingattacken, aber ihre vorbereitete Rede wurde so nie gehalten – zum richtigen Klassentreffen war sie gar nicht erst eingeladen worden. Stattdessen hat die Regisseurin ihren Augenblick der Wahrheit mit Schauspielern inszeniert, um die ehemaligen Schulgefährten mit ihrem Trauma zu konfrontieren.
Die Reaktionen auf diese private Filmvorführung – der Widerspruch, die Ausflüchte, das unverhohlene Desinteresse – lässt Odell ebenfalls nachstellen, weil keiner ihrer Gesprächspartner sich vor laufender Kamera zu den Vorwürfen äussern wollte. Das Ergebnis ist eine schillernde Mischform, die es verunmöglicht, den Wahrheitsgehalt der Geschichten entlang der Genregrenzen zwischen Dokumentation und Spielfilm zu bestimmen. Zweifel am schwedischen Mythos vom gemütlichen «Volksheim», in dem es keine Hackordnung gibt, sind aber angebracht.
Flucht und Heimatverlust
Während Sarah Polley und Anna Odell das Fremdwerden in der eigenen Biografie behandeln, kümmert sich der Schweizer Dokumentarfilm «Neuland» um das Leben in der Fremde – relativ gesprochen. Die ehemalige Primarlehrerin Anna Thommen begleitet den Alltag ausländischer Jugendlicher an der Integrations- und Berufsschule in der Kaserne Basel, wo die Schülerinnen und Schüler zwei Jahre lang mit der deutschen Sprache, der ablehnenden Haltung ihrer Gaststadt und den eigenen Erwartungen ringen.
Es ist ein schmales Fenster, das die 33-jährige Regisseurin auf ihre Protagonisten öffnet, doch der institutionalisierte Rahmen passt: Wo es kein Daheim gibt, dürfen wir keine gemütliche Homestory erwarten. Stattdessen beschreibt Thommen die Dynamik zwischen den Jugendlichen und ihrem Lehrer, der ihren desolaten Erzählungen von Flucht und Heimatverlust eine schwache Hoffnung gegenüberstellt: Nutze die Chance. Es ist eine heikle Gratwanderung zwischen Ermutigung und Illusion, die der Lehrer dennoch mutig beschreitet, als Gebot der Menschlichkeit.
Politisch, ohne zu politisieren
Anna Thommen ist als stille Beobachterin mit dabei, registriert die Freude über ein gelungenes Bewerbungsgespräch, die Verzweiflung über einen abgelehnten Asylantrag. Wobei Letzteres für die Kamera wiederholt wurde: Bei aller Zurückhaltung weiss die Filmemacherin ganz genau, was wir sehen müssen, um die Lebensumstände der Jugendlichen nicht nur mit dem Verstand zu erfassen. Das Ergebnis ist eine ergreifende, aber nie manipulative Dokumentation, die politisch ist, ohne zu politisieren.
Drei Regisseurinnen, drei Filme, drei unterschiedliche Blicke auf eine Wirklichkeit, die sich nicht immer mit einer bequemen Wahrheit deckt. Was allen Produktionen gemein ist: Sie erzählen, wie es in «Stories We Tell» einmal heisst, gute Geschichten. Und die behält man nicht für sich.