Wenig Neues, dafür viel Schlaues

In «Das Kalb vor der Gotthardpost» vereint Peter von Matt Essays zum Zustand der Schweiz und der Schweizer Literatur. Unsere Kürzestkritik.

Peter von Matt wird mit dem Schweizer Buchpreis 2012 ausgezeichnet (Archiv). (Bild: sda)

In «Das Kalb vor der Gotthardpost» vereint Peter von Matt Essays zum Zustand der Schweiz und der Schweizer Literatur. Fragen und Antworten zum Gewinner des Schweizer Buchpreises.

Das «Kalb vor der Gotthardpost» ist eine Sammlung von verschiedenen (und bereits früher erschienenen) Essays des emeritierten Literaturprofessors Peter von Matt. Also kein Buch im eigentlichen Sinne. Nur der erste Aufsatz zur «Seelengeschichte einer Nation» wurde eigens für den Band geschrieben, und bereits dieser Text rechtfertigt die Nomination für den Buchpreis. Von Matt schildert das Streben der Schweiz und der Schweizer seit dem 18. Jahrhundert als steten und letztlich ungelösten Konflikt zwischen Stillstand und Fortschritt. Er beschreibt die Erfindung der Schweiz als Alpenland, als nationales Traumbild vom stadtfernen Volk in der ursprünglichen Natur, frei, friedlich und vernünftig. Und er beschreibt die Probleme, die sich aus dieser erfundenen Selbstbeschreibung ergeben. Die nachfolgenden Essays über die grossen Schriftsteller der Schweiz nehmen diesen Grundton auf und lesen sich allesamt – wunderbar.

 

Der erste Satz des Buches:

«Ob das Kalb davonkommt?»

Der letzte Satz des Buches:

«Die Menschen mögen der Natur ein Geheimnis um das andere entreissen, es taucht dahinter jedesmal ein neues auf.»

Dieser Satz wäre ein Grund, das Buch zur Seite zu legen:

«Diese Passage liquidiert den bürgerlichen Kunstbegriff, den die ernsten Mentoren einst umkränzt haben wie die Sibyllen und Propheten den Raum der Sistina.» Von Matt beschreibt die Weisheiten von Robert Walser, berauscht sich an ihnen. Und ein bisschen an sich selbst.

Die gelungenste Wortkreation:

Der «politische Wurzelsepp» ist für von Matt der fleischgewordene Widerspruch unseres Landes. Schweizer, die stadtnah und feudal wohnen und sich dennoch als geborene Bergler vorkommen. Und dafür von anderen «synthetischen Berglern» Beifall erhalten.

Der bemerkenswerteste Satz:

«Die Erfahrung solcher Liebe aber kann einem plötzlich geschenkt werden als die höchste Wirklichkeit, die es auf unserem geschändeten Planeten gibt.» Wenn von Matt über Dürrenmatt schreibt, ist er besonders stark. Ein Vergnügen.

Das denkt man vor der Lektüre über den Autor:

Wird Peter von Matt zu Recht von der Medienöffentlichkeit als einer der herausragendesten Intellektuellen der Schweiz bejubelt?

Das denkt man nach der Lektüre über den Autor:

Oh ja.

Wer dieses Buch lieben wird:

All jene, die manchmal ob der Schweiz und ihrem verqueren Umgeang mit sich selber verzweifeln.

Auf gar keinen Fall ist das Buch all jenen zu empfehlen …

…, die noch immer an die gute Zeit der Eidgenossen glauben.

Was uns vom Buch auch in 10 Jahren noch in Erinnerung bleiben wird:

Wie wichtig es ist, die Literatur eines Landes in Verbindung mit seiner Geschichte zu setzen. Und öffentlich darüber nachzudenken.

Und warum Peter von Matt vielleicht lieber nicht gewonnen hätte:

Weil er auch ohne Buchpreis mehr Aufmerksamkeit erhält als seine Konkurrenten.

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