Wenn das Theater den geschützten Raum verlässt

Die Bühne, der Vorhang, ein Stück, der Zuschauerraum: Theater funktioniert auch ohne die gewohnten Rahmenbedingungen. Immer öfter begibt es sich in den öffentlichen Raum und spielt mit der Verzahnung von Wirklichkeit und Fiktion.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Die Bühne, der Vorhang, ein Stück, der Zuschauerraum: Theater funktioniert auch ohne die gewohnten Rahmenbedingungen. Immer öfter begibt es sich in den öffentlichen Raum und spielt mit der Verzahnung von Wirklichkeit und Fiktion.

Man kommt sich ziemlich ausgestellt vor, wenn man als Theaterzuschauer – aber Zuschauer ist hier der falsche Begriff: wenn man als Teilnehmer der Audioperformance mit einem an die Brust gedrückten Ghettoblaster vor einem Hauseingang beim Voltaplatz steht und auf Aufforderung der Tonbandstimme die Augen schliesst. Erst recht, wenn sich das unangenehme Gefühl einschleicht, dass die Stimme plötzlich nicht mehr nur über Kopfhörer, sondern weitum hörbar auch über die Lautsprecher zu vernehmen ist.

Was aber zum Glück nicht der Fall ist. Denn das Vibrieren der Lautsprecher und der einsetzende räumliche Hall des Tones sind ein technischer Trick des britischen Theatermachers Ant Hampton, der den Besucher zum Teil seiner hintersinnig-kontemplativen Zeitreise durch die Geschichte des Voltaplatzes werden lässt. «Lest We See Where We Are» heisst die Audioperformance, die noch bis Sonntag, 15. Juni, zu erleben ist.

Performance im öffentlichen Raum

Hampton und sein Projektpartner sowie Autor Tim Etchells sind zwei von mittlerweile vielen Künstlern, die ihre Theater- oder Performance-Projekte im öffentlichen Raum stationieren – sei es nun im und beim Café Florida, wie bei ihrem aktuellen Projekt, oder in der Universitätsbibliothek, wo sie vor zwei Jahren mit ihrem szenischen Hörspiel «The Quiet Volume» zu Gast waren.

«Lest We See Where We Are» ist Teil der Veranstaltungsreihe «PerformaCity» der Kaserne Basel. Wie der Titel besagt, geht es um Theaterprojekte und Performances, die sich explizit eben mit dem öffentlichen urbanen Raum auseinandersetzen, den sie bespielen. Behandelt wird die Frage, wie sich die Stadt, in der wir leben möchten, entwickeln soll.

Ganz anders als Hampton und Etchells setzt sich Dries Verhoeven mit seiner performativen Installation «Ceci n’est pas …» in Szene, die ebenfalls im Rahmen von «PerformaCity» in Basel zu Gast ist: In einer grossen Glasbox auf dem Claraplatz stellt der niederländische Künstler und Regisseur in Anlehnung an die Jahrmarkt-Freakshows vergangener Zeiten ungewöhnliche Menschen von heute zur Schau. (siehe Interview auf Seite XY).

Spiel in und mit der Wirklichkeit

Die Projekte im Rahmen von «PerformaCity» sind nur einige aktuelle Beispiele unter vielen. Immer mehr Theater- und Performancekünstler verlassen den geschützen Rahmen ihrer Häuser, um sich draussen zu installieren und sich an Ort und Stelle mit diesem «richtigen Leben» auseinanderzusetzen. «Man kann durchaus von einem Trend sprechen, auch wenn die Bewegung aus den angestammten Veranstaltungs- und Ausstellungshäusern hinaus in die reale Welt oder die Besetzung neuer Räume an und für sich nicht neu ist», sagt Tobias Brenk, der als Dramaturg und Produktionsleiter Theater und Tanz der Kaserne die «PerformaCity»-Reihe betreut.

Mittlerweile gehören Projekte im öffentlichen Raum zur Tagesordnung im Theaterprogramm. In Form und Inhalt und auch qualitativ sind sie so unterschiedlich wie das Theater, das sich nach wie vor in den angestammten vier Wänden präsentiert. Nur dass die sogenannte «vierte Wand», also die imaginäre Trennmauer zwischen Guckkastenbühne und Zuschauerraum, vollends verschwindet. Das Publikum kann sich nicht mehr im abgedunkelten Zuschauerraum über die Menschendarsteller auf der anderen Seite der Bühnenrampe erfreuen. Es muss mitspazieren, wenn es sich um einen Theaterspaziergang handelt, es wird von Spielern oder über Kopfhörer zur Interaktion aufgefordert, es darf oder soll in Spielsituationen eingreifen und wird selber zum Zentrum des Spiels, das in vielen Fällen ganz ohne Schauspielerinnen und Schauspieler auskommt.

Auf dem Abenteuer-Parcours

Eine Basler Institution, die schon seit Jahren darauf aus ist, neue und öffentliche Räume zu bespielen, ist die Theater-Falle Basel, die sich auf zum Teil interaktive medien- und theaterpädagogische Projekte spezialisiert hat. «Theater braucht Luft, um atmen zu können», sagt Ruth Widmer, Gründerin und künstlerische Leiterin der Theater-Falle. «Wir möchten mit unseren Projekten im öffentlichen Raum eine niederschwellige Situation schaffen, die spezielle Begegnungen und einen Brückenschlag zwischen den Generationen und Kulturen ermöglicht.»

Zum Beispiel mit dem transmedialen Episodenspiel «Plan B 1.0», das Spielsituationen aus dem virtuellen Kosmos der Computergames in eine physisch fassbare reale Welt übertrug. Die Zuschauerinnen und Zuschauer wurden zu Akteuren einer abenteuerlichen Schnitzeljagd durchs Kleinbasel oder einer besinnlicheren Spurensuche nach dem Verbleib einer verschwundenen Frau. Sehr viel mehr als spielerische Unterhaltung bieten diese Projekte nicht.

Die reale Welt zu Theater erklären

Um einiges subversiver und überraschender gehen andere Protagonisten der Reality-Bewegung oder des Dokumentartheaters in ihrem Spiel mit und in der realen Welt um. An den Basler Dokumentartagen im April 2013 führte der bekannte Schweizer Theatermacher Milo Rau die Zuschauerinnen und Zuschauer in einen realen Gerichtssaal, der damit gewissermassen zur Bühne mutierte. Aus der Realität wurde Darstellung. Und das berühmt-berüchtigte dreiköpfige Autoren- und Regietrio Rimini Protokoll aus Berlin (mit Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel) erklärte 2009 eine Daimler-Hauptversammlung zum Theaterstück.

Rimini Protokoll und im Speziellen das Schweizer Teammitglied Stefan Kaegi sind auf ihren Touren, die rund um den Erdball führen, regelmässig auch in Basel zu Gast. Zuletzt im September 2013 mit dem Theaterspaziergang «Remote Basel». Eine Computerstimme auf dem Menschfindungstrip führte die Theatergängerinnen und -gänger auf einen fantastischen Stationenweg durch die Stadt – von der Kirche über einen Sportplatz und ein Spielzeuggeschäft bis ins Universitätsspital.

«Ich mag die Idee von einem Theater, das sich nicht in seiner Kunstfertigkeit gefällt, sondern ein Fenster zu seiner Umgebung, seiner Umwelt, seiner Gesellschaft ist», sagt Kaegi. «Theater wurde lange als hierarchisches System, in dem von oben nach unten kommuniziert wird, verstanden. Wir versuchen ‚Theater spielen’ als eine Form des gemeinsamen Spielens statt des Vorspielens zu verstehen.»

Das andere Stadt-Theater

Wie viele Theatermacherinnen und Kunstperformer (wobei eine Abgrenzung zwischen den Spartengrenzen längst obsolet geworden ist) erklärte Kaegi damit die Stadt zur Bühne oder zum Labor einer künstlerischen Forschungsreise. Eine Reise, die weit über die Rekonstruktion von Wirklichkeit, wie dies das konventionelle Theater vermittelt, hinausgeht, weil sich das Theater hier zu einen Teil der Wirklichkeit macht. Wenn es seine angestammten vier Wände verlässt, schafft es das an und für sich langsame Medium Theater, für einmal ganz nahe am Puls der Zeit zu sein.

Wie sich diese Formate in den nächsten Jahren weiterentwickeln, kann Tobias Brenk von der Kaserne Basel nicht genau sagen: «Sicher ist, dass das Theater am Selbstverständnis festhalten wird und muss, nicht im eigenen Kosmos stecken zu bleiben», sagt er. Aber auch die angestammte Theaterbühne ist und bleibt laut Brenk ein wichtiger Imaginationsraum, «um Ästhetiken und Positionen zu zeigen, die eben nicht alltäglich sind oder uns Erfahrungen ermöglichen, die wir im Alltag so nicht erleben können».

Die Kaserne Basel wird in naher Zukunft aber aus infrastrukturellen Gründen für eine gewisse Zeit auf eine ihrer Indoor-Bühnen verzichten und somit gezwungenermassen rausgehen müssen: In knapp einem Jahr werden die Fassade und der Dachstock des Rossstalls umfassend saniert und das Gebäude erdbensicher gemacht – «dann wird uns gar nichts anderes übrigbleiben, als nach alternativen Spielorten Ausschau zu halten», sagt Brenk.

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