Othella Dallas wird bald 92. Noch immer tritt sie als Jazzsängerin auf und unterrichtet in Basel bis heute Tanzschüler. Eine Begegnung mit einer Frau, die Tanzgeschichte geschrieben hat.
Auf der Strasse, den roten Einkaufswagen im Schlepptau, wirkt die zierliche Frau zerbrechlich. Doch dann, in ihrem Tanzstudio, scheint sie wie verwandelt. Othella Dallas hält es kaum auf dem Stuhl, als sie ein paar kubanische Musikstücke ab Band spielt. Sie wippt mit den Füssen, fixiert die Journalistin mit ihren wachen Augen und steht schliesslich auf, um ein paar typische Schritte der Dunham-Technik vorzuführen.
Dabei wird die Frau diesen Herbst 92. Ihren wohlverdienten Ruhestand zu geniessen, kommt für die ehemalige Tänzerin der legendären Katherine Dunham Company nicht in Frage. Nach wie vor unterrichtet sie sechs bis acht Lektionen wöchentlich und ist auch als Jazzsängerin auf der Bühne zu erleben. «Tanzen ist mein Leben», sagt sie und schiebt, ganz ohne Pathos, nach: «Wenn ich nicht mehr tanze, werde ich tot sein.»
Letzte Tanzpionierin aus der Dunham-Ära
In ihrer Tanzschule im Basler Gundeli-Quartier lehrt sie die Dunham-Technik. Sie ist die Letzte aus der Generation, die mit Katherine Dunham – mit Miss Dunham, wie sie alle nannten – arbeitete. «Ich bin als ehemaliges Mitglied der Katherine Dunham Company der letzte Mohikaner», scherzt die Tanzpädagogin in ihrer etwas ruppigen, aber herzlichen Art. Wie ein Auftrag erscheint es ihr, das Wissen und die Schönheit dieses einmaligen Tanzstils anderen zu vermitteln.
Othella Dallas (r.) 1949 mit der Grande Dame des Tanzes Katherine Dunham.
Weltweit war Dallas immer wieder als Lehrerin zu Workshops und Meisterkursen eingeladen. Der brasilianische Tänzer und Choreograf Ismael Ivo, ein Bewunderer von Dunham, choreografierte für Dallas und vermittelte ihr Lehraufträge. Auch für Alvin Ailey, ein international gefeierter Star der Tanzszene, war Dunham extrem wichtig. «Alle schreien begeistert Ailey, Ailey, wenn seine Company ein Gastspiel hat!» kommentiert Dallas trocken, «aber was er machte, ist nichts anderes als Dunham-Technik.»
Kein Zufall, dass sich Ailey und Ivo so stark für diesen besonderen Tanzstil interessierten. Beide sind schwarz, beide haben sie wie Dallas Rassismus erfahren.
«Wir sollten stolz sein auf unsere Kultur»
«Wo immer ‹black art› war, da war auch Miss Dunham», erzählt Dallas. Ihr sei es darum gegangen, das Selbstbewusstsein der Afro-Amerikaner zu stärken. «Wir sollten nicht unsere krausen Haare glätten und die Haut bleichen, sondern stolz auf unsere eigene Kultur sein. Miss Dunham kämpfte für uns, und den Weissen half sie, indem sie ihnen den Rhythmus brachte», sagt Dallas mit einem sphinxhaften Lächeln
Dallas tourte mit der Katherine Dunham Company um den Globus; mit ihr sah Europa zum ersten Mal «black dance» als eine ernst zu nehmende Kunstform. Lange hing im Zürcher Bahnhofbuffet ein Plakat als Erinnerung an jene Tournee. Als ich Dallas davon erzähle, nickt sie und fordert mich auf, mit ihr einen Rundgang durch die Bildergalerie in ihrem Studio zu machen. Da hängt das Plakat in Kleinformat, ein Tänzerpaar skizziert mit ein paar Strichen, so flüchtig, wie Tanz eben ist. Daneben hängen Schwarzweiss-Aufnahmen von Tanzenden in exotischen Kostümen, athletische Körper, sinnlich, schön.
«Black people can go up.» Othella Dallas 1952. (Bild: Foto Marlin Basel)
«Ballett gehe für uns Schwarze nicht, hiess es damals», erinnert sich Dallas, «unsere Körper entsprachen nicht dem klassischen Ideal. Aber Miss Dunham fand einen Weg, Ballett und unsere Kultur zusammenzubringen.» Selbstbewusst fügt sie an: «Black people can go up.» Und meint damit die aussergewöhnliche Sprungkraft schwarzer Athleten und Tänzer.
Rassen-Segregation der Südstaaten
Zwischen den beiden Weltkriegen 1925 in Memphis geboren, erlebte Othella Dallas die Segregation der Südstaaten am eigenen Leib. Dabei war sie nicht einmal besonders dunkelhäutig. Doch dunkel genug, dass sie als Mensch zweiter Klasse hinten anstehen musste.
Sie wuchs in einem Frauenhaushalt auf. Ihre geliebte Grossmutter war eine klassisch ausgebildete Musikerin. Ihre Mutter arbeitete als Pianistin in Nightclubs und war die Haupternährerin der Familie. Neben diesen zwei Müttern gab es noch eine Tante, die dritte «Mutter» von Othella. Alle im männerlosen Haus mussten hart arbeiten, Wasser schleppen und Holz hacken.
Nicht in Diensten der Weissen zu stehen, war das stolze Credo dieser kleinen Frauengemeinschaft. Auch die kleine Othella verdiente sich früh ein paar «Dimes» (Zehncent-Stücke) dazu, mit Steptanz an der Strasse, wo die Arbeiter abends vom Baumwollfeld vorbei nach Hause mussten. «Ich begann zu tanzen, weil ich hungrig war», erzählt sie, «aber ich liebte es auch.»
Ein Voodoo-Priester half
Othella litt an Rachitis. Ihre krummen Beine sollten gebrochen und danach gerade zusammengeschient werden. Doch ein Voodoo-Priester hatte eine andere Idee, die offenbar Erfolg hatte, wie Dallas im Dokumentarfilm «What is Luck?» von 2015 schildert: Nach dem Abwasch musste sie jeweils im fettigen Spülwasser stehen, während ihr die Beine unter einer Beschwörungsformel massiert wurden.
Die 14-jährige Othella Dallas mit ihren ersten Tanzschuhen.
Dallas war um die 18, 19 Jahre alt, so genau weiss sie es nicht mehr, als Katherine Dunham auf Talentsuche ihre Tanzschule in Tennessee besuchte. Sie bot Othella ein Stipendium an ihrer Schule in New York an. Eine Ausbildung, die nicht nur aus Tanzlektionen, sondern auch aus Kursen in Anthropologie und Religionsphilosophie bestand. Für die junge Südstaatlerin bedeutete dies die Erfüllung ihres grössten Traums. Die Grossstadt an der Ostküste war aber auch ein kultureller Schock. Als sie zufällig auf einer der Studiobühne der Schule beobachtete, wie ein schwarzer Tänzer eine weisse Tänzerin in die Höhe hob, stockte ihr der Atem. Im Süden wäre der Mann dafür gelyncht worden.
Die Tänzerinnen mussten unten durch
Um sich den Tanzunterricht zu verdienen, musste Dallas in ihrer Freizeit die Probenräume und Toiletten schrubben. Aber nicht nur sie, alle schufteten, Miss Dunham, eingeschlossen. Die Schule und Company am Laufen zu halten, das hatte seinen Preis.
Miss Dunham sei, so Dallas, oft in Secondhand-Kleidern herumgelaufen. Der Alltag von Tänzern war entbehrungsreich, jener von schwarzen Tänzern erst recht. Als Dallas schon Mitglied der Company war und auf Gastspielreise in einer Stadt des Südens haltmachte, weigerte sich der Veranstalter, die hungrigen Künstler zu verköstigen. Schliesslich, erzählt Dallas, erreichte Miss Dunham wenigstens, den Schlüssel für die Küche zu bekommen. Sie stellte sich an den Herd und kochte eigenhändig für ihre 30 Tänzer, Sänger und Musiker eine Mahlzeit.
Diese Zeiten von Demütigung, Hunger und Armut sind lange vorbei. Dallas heiratete einen Schweizer, die grosse Liebe ihres Lebens, und hatte mit ihm einen Sohn. Von ihrem Mann gemanagt, startete Dallas 1952 in Paris eine zweite Karriere als Jazzsängerin. Später trat sie in New York mit Jazzgrössen wie Duke Ellington und Quincy Jones auf. 1975 gründete sie in Basel eine eigene Schule.
Als Mitbegründerin des Jazzfestivals St. Moritz wird sie auch dieses Jahr, zum zehnjährigen Jubiläum, auf der Bühne stehen. Da, im Rampenlicht, ist sie in ihrem Element, wie ein Fisch im Wasser. Sie singt und bewegt sich, unvergleichlich sexy trotz des hohen Alters, und lässt erahnen, was für eine fantastische Tänzerin sie einst war.