Was für uns alltäglich ist, kann für eine Migrantin aussergewöhnlich sein. Eine wahre Geschichte – erzählt im Rahmen der 1.-August-Aktion «an deiner statt», initiiert von der Plattform «Kunst + Politik».
Sie steigt vom Rollstuhl aufs Gebärbett. Sie liegt den ganzen Nachmittag halbnackt und stöhnend da, mit verstümmelten Füssen – nur zwei Zehen sind ihr übrig geblieben – und mit Granatsplittern über den ganzen Körper verstreut. Zwischen den Wehen erzählt sie den Ärztinnen und Hebammen ihr Trauma, nein, nicht von damals, als die Soldaten eine Granate in den Keller geworfen haben, wo sie sich versteckt hielt, sondern jenes von der Angst vor Unfruchtbarkeit: «Acht Jahre lang konnte ich nicht schwanger werden.»
Gegen Abend kommt der erste Sohn mit dem Köpfchen voran auf die Welt, den zweiten packt die Ärztin im Mutterbauch an den Beinchen und zieht den Zappelnden heraus. Als man ihr die kaum je zwei Kilo wiegenden eineiigen Zwillinge auf die Brust legt, fragt die Flüchtlingsfrau: «Sind sie gesund?» «Alles ist normal.» Sie legt ihre Arme über sie: «Das ist mein Reichtum», und schluchzt: «Ich bin so dankbar. Ich will die Schweizer Erde auf den Knien abküssen.» Dann überkommt sie eine grosse Sorge um das Schicksal ihrer Plazenta: «Werden Sie meinen Mutterkuchen den Hunden zum Frass vorwerfen?» In ihrer Heimat vergrabe man die Nachgeburt tief im Garten, damit die Hunde sie nicht entehrten, erklärt sie. «Die Plazenta wird bei uns verbrannt», beruhigt sie die Hebamme.
Immer wieder fürchtet sich die Flüchtlingsfrau vor Nichtigkeiten. Sie ängstigt sich vor dem Durchzug, der unter der Türschwelle zu den Bettchen ihrer Frühchen kriecht, als wäre es Artilleriefeuer, sie sorgt sich, ob ihr strampelnder Reichtum genug zunimmt, als sässe sie wieder hungrig im provisorisch eingerichteten Zeltlager, sie fragt, ob es lebensgefährlich sei, wenn die Pulvermilch die Säuglingsbäuchlein hart mache. Auf einmal richtet sie sich auf dem Rollstuhl auf und verlangt, dass ihr der Multi die Zusatznahrung weiterschenke. Noch einen Monat oder gar ein Jahr. Sie bekommt bittende, feurige Augen. Und der Busen quillt aus dem tiefen Ausschnitt heraus. Lästig, aber wunderschön ist sie in ihrer zähen Überlebensstrategie, die sie mit auf die Flucht genommen hat. All den Rest musste sie zurücklassen.
Die Ängste machen sie fordernd. Sie kämpft heroisch für ihr Glück, als verteidige sie Meter für Meter die Frontlinie. Im geregelten Frieden verärgert sie viele damit. Mit einer Krücke humpelt sie im Flüchtlingsheim, beschwert sich über die rauchende Nachbarin, den nach Alkohol stinkenden Nachbarn. Die unbekannte Welt ist voller Gerüche und Unannehmlichkeiten. Für die Süchte anderer hat sie kein Verständnis, und schon gar nicht, wenn diese ihren Nachwuchs bedrohen. Acht Jahre lang gewartet, wiederholt sie und ist überzeugt, man würde ihren Beschützerwillen verstehen und sie darin unterstützen.
Der Kern des Seins
Vor einem Jahr brach sie in die grosse Welt auf und jetzt zieht sie jeden und jede, die ihr begegnen, in die zwei Kinderbettchen hinein, wo der Kern ihres Seins liegt. Sie hält es für den Kern des Seins schlechthin. Sie sollen die Welt etwas angehen, gar sehr viel, diese Kerlchen, die ihre Äuglein träge aufmachen. Schielen sie nicht etwa? «Das ist bei Neugeborenen normal», erklärt der Kinderarzt. Nach all dem Abnormalen, woran sie sich gewöhnt hat, wird es allmählich normal. Sie atmet tief durch. Acht Jahre …
Der stumme Kämpfer
Einen Mann gibt es auch. Aber er verschwindet hinter dem Rollstuhl, ein ihn schiebender Schatten mit breitem Gang, der ab und zu hervorspringt, um ihr beizustehen. Die Hebamme rief ihn nach der Geburt des zweiten Kindes, er solle die Nabelschnur mit einer Schere durchschneiden, den Sohn von der Mutter trennen. Er rannte unverrichteter Dinge wieder hinaus. Sonst rennt er nicht davon. Ein anderer Mann aus seiner Kultur würde eine invalide Frau verlassen. Doch er weiss, dass die Granate, die im Keller explodierte, ihm galt, dem bewaffneten Kämpfer. Ihn haben sie gesucht. Und trafen sie.
Wegen ihres Mannes verlor sie die Gehkraft, und ihm gebar sie die Söhne. Jetzt kann sie sicher sein, er würde sie nicht verlassen. Für ihre Jungen fordert sie überall Windeln, Strampelanzüge, Fläschchen, Babytüchlein, als sei man es ihr schuldig.
Und der Kämpfer sitzt stumm daneben, lernt die Sprache der Sorge um das Kleine und Zarte. Den grossen Unabhängigkeitskampf hat er verloren. Er blickt zu Boden und verlangt nie etwas. Er lernt jedes einzelne Gramm schätzen. Die Söhne nehmen pro Woche zwischen je 200 und 300 Gramm zu. Eine grosse Zahl. Gott ist gross. Er trägt die Winzlinge in seinen behaarten Armen, badet sie, und nachts gibt er ihnen den Schoppen, während sie schläft.
Ein guter Mann. Sie hat Glück gehabt. Sie lächelt: «Der Allerhöchste hat ihn mir geschenkt.» Dann erschrickt sie: «Wieso atmet mein Sohn so schwach?» Die Krankenschwester sagt ruhig: «Das ist normal.» Und die Flüchtlingsfrau lässt sich ihr neues Lieblingswort, das sie im Frieden kennengelernt hat, wollüstig auf der Zunge zergehen.
Irena Brežná kam 1968 als Flüchtling aus der Tschechoslowakei in die Schweiz. Die Schriftstellerin arbeitet als Journalistin, Dolmetscherin und Menschenrechtlerin. Sie lebt in Basel. Zuletzt erschien ihr Einwanderungsroman «Die undankbare Fremde» (Galiani, Berlin 2012).
In der Schweiz leben Tausende von Menschen, die sich verstecken. Sie tun alles, um nicht aufzufallen. Sie pflegen alte Menschen und reinigen Haushalte, um Geld zu verdienen. In der öffentlichen Auseinandersetzung aber haben sie keine Stimme. Eine Aktion von «Kunst + Politik» will ihnen diese nun verschaffen. 30 Schweizer Autorinnen und Autoren haben ebenso viele Nothilfebezügerinnen, Sans-Papiers und abgewiesene Asylbewerber getroffen und verleihen ihnen nun eine Stimme. Auf der Website www.kunst-und-politik.ch können die hier publizierte und alle anderen Geschichten gelesen werden. Folgende Autorinnen und Autoren sind an der Aktion «an deiner statt» beteiligt: Karina Akopian, Wolfgang Bortlik, Irena Brežná, Renata Burckhardt, Rudolf Bussmann, Nathalie Chaix, Odile Cornuz, Nicolas Couchepin, Sandrine Fabbri, Heike Fiedler, Simon Froehling, Antoine Jaccoud, Guy Krneta, Lukas Holliger, Meral Kureyshi, Johanna Lier, Urs Mannhart, Gerhard Meister, Thérèse Moreau, Milena Moser, Alberto Nessi, Pascal Rebetez, Isabelle Sbrissa, Hansjörg Schertenleib, Ruth Schweikert, Sylvain Thevoz, Sabine Wen-Ching Wang, Anicée Willemin, Yusuf Yesilöz und Suzanne Zahnd.
Artikelgeschichte
Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 27.07.12