Seit 1904 erinnert in Liestal ein Denkmal an ihn, und das Dichter- und Stadtmuseum besitzt grosse Teile seines Nachlasses. Trotzdem ist der Publizist und Dichter Georg Herwegh (1817-1875) in der Region Basel nur noch wenigen ein Begriff. Zu Unrecht – wird doch eine Zeile aus seinem «Bundeslied für den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein» gerne zitiert.
Internationalen Kultstatus wie die «Internationale» («Wacht auf, Verdammte dieser Erde…») hat das 1863 entstandene Bundeslied zwar nie erreicht. Nichtsdestotrotz hat es bis heute Spuren im kollektiven Gedächtnis der Linken und Ganzlinken hinterlassen. So war 2006 auf einem Plakat in Basel zu lesen: «Alle Räder stehen still, wenn der starke Arm es will!» Ganz korrekt war das nicht. Teilnehmer von 1.-Mai-Kundgebungen in den 1970er-Jahren hatten das Zitat noch etwas anders im Ohr: «Mann der Arbeit, aufgewacht und erkenne deine Macht: Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.»
«In freier republikanischer Erde»
Dass diese Zeilen von Georg Herwegh verfasst wurden und dass in Liestal seit 1904 ein Monument für den «Sänger des Proletariats» steht, dürfte heute allerdings nur noch wenigen bekannt sein.
Georg Herwegh wurde 1817 in Stuttgart geboren und starb 1875 in Lichtental bei Baden-Baden. Um sich der Einberufung in die württembergische Armee zu entziehen, setzte er sich in jungen Jahren in die Schweiz ab. Als die konservative Zürcher Regierung den radikalen Republikaner abschieben wollte, erwarb er 1843 das Augster Bürgerrecht, ohne allerdings je im Kanton Basel-Landschaft zu leben. In Liestal fand er seine letzte Ruhestätte, weil der entschiedene Bismarck-Gegner und Sozialdemokrat in seinem Heimatkanton «in freier republikanischer Erde» begraben werden wollte.
Shooting Star des «Vormärz»
Zur Zeit des «Vormärz», der Aufbruchsstimmung vor 1848, war Herwegh eine bekannte Figur des öffentlichen Lebens. Mit seinem1841 erschienenen Band «Gedichte eines Lebendigen» hatte er die Herzen seiner aufmüpfigen Altersgenossen im Sturme erobert und einen veritablen Bestseller gelandet.
1863, als Ferdinand Lassalle ihn dazu drängte, ein Bundeslied für den im selben Jahr gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zu verfassen, funkelte Herweghs Stern nicht mehr so hell wie früher; ein Vergessener war er damals aber noch keineswegs, und er sollte in den Jahren bis zu seinem Tod im Jahr 1875 noch einige Gedichte schreiben, die über den Tag hinaus bestand haben. Mit ihnen wandte er sich gegen den nationalistischen Taumel, dem sich nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich im Krieg von 1870/1871 und der deutschen Einigung unter Bismarcks Fuchtel selbst ehemalige Weggefährten nicht hatten entziehen können.
Das Bundeslied von 1863
Herweghs eingangs zitiertes Bundeslied besteht aus zwölf Strophen zu vier Zeilen. Es führt «dem Mann der Arbeit» eindrücklich vor Augen, wo überall er arbeitet und was alles sein «starker Arm» produziert. Die Früchte dieser Arbeit geniessen allerdings andere: «Was ihr hebt ans Sonnenlicht, / Schätze sind es für den Wicht; / Was ihr webt, es ist der Fluch / für euch selbst – ins bunte Tuch.»
Während es nicht allzu viel Fantasie braucht, um im «Wicht» die Rentiers- und Kapitalistenklasse zu erkennen, erfordert es grössere interpretatorische Anstrengungen, den Kern des «Fluchs» herauszuarbeiten. Dieser besteht nicht nur darin, dass den Produzenten die Früchte ihrer Arbeit vorenthalten werden, sondern dass sie die Bedingungen ihrer Ausbeutung – solange die Räder eben nicht zum Stillstand kommen – fortwährend reproduzieren. So war für Herwegh das «Aufwachen» des «Mannes der Arbeit» sowohl ein ökonomischer wie ein politischer Prozess. Sein Bundeslied endet denn auch mit dem Appell: «Brecht das Doppeljoch entzwei! / Brecht die Noth der Sklaverei! Brecht die Sklaverei der Noth! / Brot ist Freiheit, Freiheit Brot!»
«Höchstens eine gute Pauke»?
Herwegh zählte das Bundeslied nicht zu seinen besten Werken. Er war der Ansicht, er habe es zu früh aus der Hand geben müssen. So schrieb er am 25. Oktober 1863 in einem Brief an Ferdinand Lassalle: «Mein teurer Fernando furioso! Hier ist das Gedicht, weil Sie es absolut haben wollen und dessen Reife nicht erwarten können, tale quale (so wie es ist, sto). Ich fürchte, es ist unkomponierbar und höchstens eine gute Pauke.»
Herweghs Bedenken sind nachvollziehbar. Die einzelnen Strophen sind tatsächlich von unterschiedlicher Qualität. Vertonen und singen lassen sie sich aber trotzdem, wie unsere beiden Videos zeigen. In ihnen ist das Bundeslied allerdings nicht in seiner ursprünglichen Vertonung durch Hans von Bülow, sondern einer späteren durch Hanns Eisler zu hören.
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