Vor fast 20 Jahren hatten Stiller Has einen Kater ob den Neunzigerjahren. Und schrieben mit «Moudi» ihr Durchbruchalbum. Welche Rolle Songs wie «Aare» oder «Summer» heute noch einnehmen, lässt sich am Rheinufer nachprüfen: Am 12. August spielt der Has «im Fluss».
Er war ein anderer Hase, nachdem er auf den Moudi getroffen war. 1995 war ein weihevolles Jahr für Stiller Has, sie hatten sich mit ihrem dritten Album «Landjäger» aus den Berner Kellern erhoben, erstmals hinauf in die Charts, in die überregionalen Feuilletons und schliesslich in jene Sphären, wo nicht nur Applaus, sondern Preise gespendet werden.
Den Deutschen Kleinkunstpreis und das österreichische Pendant, den Salzburger Stier, erhielten Endo Anaconda und Balts Nill in diesem Jahr, und gerade der «Stier» muss dem körper- wie wortgewaltigen Sänger und Texter Anaconda besondere Anerkennung gewesen sein. Geboren als Andreas Flückiger in Burgdorf ist er zwar so bernbieterisch, wie man nur sein kann, grossgezogen und sozialisiert wurde er jedoch in Österreich.
Nicht erstaunlich, dass man seine Lyrik mit der Sprachpoesie von Ernst Jandl verglich: Arbeitete Anaconda in seinen Texten im Frühwerk mit den Mitteln der Anekdote und der Milieustudie, woraus etwa die herrliche Kleinbürgerverehrung «Go Hene Go» entstand, änderte seine Sprache ab Mitte der Neunziger Jahre.
«Moudi», erschienen 1996, zeigte, wohin die Reise führt: Der Sound, von Anacondas langjährigem Chefmusiker Balts Nill, hier sekundiert vom Brüderpaar Frank und Mich Gerber, ist spröder und knochiger geworden als noch auf den Vorgängerplatten. Und Anacondas Lyrik bevölkerten nun andere, allegorische Gestalten, allen voran der Titelheld: der «Moudi».
Wie Anaconda sich erfolglos abmüht, seinen «Moudi» aus seinem Leben zu morden, («mitem Mässer, mitem Bieli, mitem Chare, füre, zrügg, füre, zrügg»), lässt einen anderen Katzenmann aus der Berner Liedgutgeschichte aufleben, Mani Matters «Ferdinand», der für die Kunst sein Leben lassen musste. Aber Anaconda singt hier keine Fabel, in der sich die Rollen von Mensch und Tier umkehren, sondern bekläfft, konsequent in der ersten Person, die Folgen des ausschweifenden Alkoholkonsums: Whisky statt Whiskas verlangt dieser Kater.
Whisky statt Whiskas
Ihm gefalle die Figur, weil man in sie hineindenken könne, was man wolle, sagte Anaconda in einem Interview mit dem Schweizer Radio: «Der Moudi ist eine zwiespältige Figur, man will ihn umbringen. Aber manchmal ist eine Flasche Whisky, der Alkohol, auch ein guter Freund. So ist das mit den ganz guten Freunden – man muss aufpassen, denn nicht jede Freundschaft ist harmlos.»
Hineindenken, was man denken will – es gilt für die ganze Platte. Kleinräumig ist die Welt, die Anaconda als Bühne dient. Stiller Has frönen nicht wie andere Berner Gesangsgenossen der Sehnsucht nach Casablanca oder dem Abflug von Bäupmoos, sondern fahren, faul und bequem, einzig «mit em Füdle über ds Liintuech und mit em Finger uf dr Charte rund um d Wält» und richten sich in der vermeintlich niedlichen Idylle ein: «Gang doch chli dere schöne grüene Aara naa», ruft der Sänger in den ersten Zeilen, dem schönen Berner Stadtfluss, wo sich Urlauber, Velöler, Hündeler tummeln – und auch der Gynäkologe und der Gerichtspräsident.
Das Grauen lauert überall, auch an der schönen Aare
Hier tut sich der Abgrund hinter der Niedlichkeit auf: Die Zeile ist eine Anspielung auf den Berner Gynäkologen Marcel Walther, ein Duzfreund des damaligen Gerichtspräsidenten und Nationalrates Alexander Tschäppät. Walther geriet in den Neunzigern in die Schlagzeilen, weil er seine Schwägerin ermordete, die Leiche zerstückelte und sie in Abfallsäcken im Berner Wald deponierte. Nach seiner Verhaftung erhängte er sich im Gefängnis. Das Grauen lauert überall, mag die Aare noch so schön grün fliessen.
Die «Aare», der «Moudi», der «Summer» – noch heute besetzen diese zeitlosen Stücke jener Platte von 1996 regelmässig die Setliste des nimmermüde tourenden, mittlerweile zum Quartett gewachsenen Stillen Has. Und dennoch war «Moudi» auch ein Album, das jenseits der grossen Kleinlichkeit des Berner Alltags, von dem Anacondas Schreibe zehrte, die beklemmende Leere der Neunziger zu fassen vermochte, als die Welt und mit ihr auch die Schweiz nicht mehr war wie zuvor – Rezession, Neutralitätsende, Bergier-Bericht … und als die Schweiz auch noch nicht wusste, wohin sie treiben will.
«I zieh hie so mini Bahne / Zwüsche nüt u zwüschem Läbe / U beides geit u-lang, hey / U beides isch e Qual», singt er in «So Long Hasi», das sich als Abschiedslied ausgibt, ohne den Abschied genau nennen zu können. «I chäm so gärn no einisch zrügg ids Ämmital», dem Ort der Geburt, bekennt er im selben Lied. Die Sehnsucht nach dem verlorenen Idyll, sie war unstillbar in jenen Tagen.
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Live: Im Fluss, Mittlere Brücke, Basel, 12. August, 20.30 Uhr.