Wie ein Poetry-Slam-Video zu 3,5 Millionen Klicks kam

Julia Engelmann ist berühmt: Ein Video, auf dem sie einen Slam-Poetry-Text spricht, wurde 3,5 Millionen Mal angeschaut – in wenigen Tagen. Die Debatte darum wird heiss geführt. Wogegen richtet sich eigentlich die Häme?

Julia Engelmann ist berühmt: Ein Video, auf dem sie einen Slam-Poetry-Text spricht, wurde 3,5 Millionen Mal angeschaut – in wenigen Tagen. Die Debatte darum wird heiss geführt. Wogegen richtet sich eigentlich die Häme?

Julia Engelmann weiss wahrscheinlich selber nicht so genau, wie ihr gerade geschieht. In den letzten Tagen hat es ein Youtube-Video von ihr auf fast 3,5 Millionen Aufrufe gebracht. Darin tritt sie in einem Bielefelder Hörsaal als Slampoetin auf und spricht einen Text über unsere Generation, die ihr Leben verhängt statt das zu tun, was sie gerne würde. Die aus Trägheit und Vorsicht das nicht tut, wovon sie später gern erzählen würde: den Mund aufmachen, leichtsinnig sein, leben statt zu planen.

Ist das neu oder nicht neu? Oder sagt die Engelmann einfach nur besonders gut, was wir alle wissen und alle Jahre wieder von einer neuen Stimme hören müssen? Das Internet läuft heiss vor Kommentaren.

Dabei ist zunächst mal eigenartig, dass das Video eigentlich schon ziemlich alt ist. Aufgenommen wurde es im Mai 2013, online ging es im Juli und hatte Anfang 2014 gerade mal 5000 Klicks – berichtet der Blogger Kai Thrun, der es am 11. Januar auf Facebook stellte. Seitdem explodieren die Klicks und Shares.

Zum zweiten Mal berühmt

Ganz unbekannt war Julia Engelmann zwar nicht. Die 21-Jährige hat zwischen 2010 und 2012 bei nicht weniger als 520 Folgen der RTL-Soap «Alles was zählt» mitgespielt. Ansonsten ist Bremen ihr Revier: Dort wurde sie geboren, spielte am Theater Bremen in verschiedenen Produktionen mit und rockte die lokale Poetry-Slam-Szene.

Jetzt ist sie berühmt. Wofür? Zunächst war da die Rührung: Es ist so wahr, was sie sagt und dabei so treffend formuliert. Schrieb neben endlos vielen Youtube- und Facebook-Kommentatoren zum Beispiel der«Stern». Der Shitstorm liess nicht lange auf sich warten. Im Netz wurde, anonym oder auch nicht, Kritik laut bis zum Hass. Was soll der Kitsch, was soll die Rührung, was soll das immergleiche Leb-in-der-Gegenwart-Zeug? Eine sehr hübsche Ausformung davon ist die Parodie des ZDF-Satirikers Jan Böhmermann:

Während Kai Thrun berichtet, der Hype nehme schon langsam wieder ab, muss noch dessen Phase drei erwähnt werden: Die intellektuelle Einordnung in armlangen Feuilletonartikeln. Da ist man sich relativ einig – wäre ja noch schöner: «Exakt kalkuliert» titelt die «Süddeutsche Zeitung» und durchschaut Engelmanns charmante Nervosität, die man auch wahrhaftig und daher bewegend finden kann, als eiskaltes Know-how, wie man die Massen erreicht. «Die Zeit» entblöst höchst eloquent das kitschige Pathos der Julia Engelmann und zitiert dabei die grossen Denker des 20. Jahrhunderts. Einmal mehr zeigt sich: Man zieht Spott schon allein dadurch auf sich, dass man berühmt wird. Wer in aller Munde ist, braucht einen Grund dafür. Sonst hat man die leidenschaftliche Ablehnung in Netz und Medien sicher.

Deswegen wohl zog die «Süddeutsche» am 21. Januar nochmal nach: Kitschig oder nicht, Engelmann spreche das Gefühl von Millionen an: «Nicht mehr – aber auch nicht weniger.»

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