«Regietheater» ist ein ganz und gar deutscher Begriff, der den Regisseur als gottähnlichen Gestalter des Stücks versteht. Manche verwenden ihn als Schimpfwort, andere als Qualitätsbegriff. Im angelsächsischen Gegenwartstheater hingegen ist der Regisseur Dienstleister des Dramatikers. Hier steht die «Ästhetik des Naturalismus oder Realismus» stärker im Vordergrund.
Letzteres sagt der britische Regisseur Joe Hill-Gibbins im Interview im Programmheft zur Schweizerischen Erstaufführung des Schauspiels «Mary Page Marlowe – eine Frau» des gefeierten amerikanischen Dramatikers und Schauspielers Tracy Letts. Vor neun Jahren hatte dessen Stück «Eine Familie» für einen der wenigen Höhepunkte in der Schauspiel-Ära unter Direktor Georges Delnon gesorgt.
Komplexes Szenen-Patchwork
Hill-Gibbins erweist sich nun in seiner Inszenierung als Vertreter der von ihm deklarierten angelsächsichen Theatertradition – zumindest soweit ihm das möglich ist. Denn Autor Letts hat kein realistisch aufgebautes Drama mit einem linearen Ablauf geschrieben, sondern ein Szenen-Patchwork.
So springt die Inszenierung wild durch die Lebensabschnitte der Titelfigur, vorwärts und rückwärts: Zu erleben ist Mary Page Marlowe als 40-Jährige, unmittelbar danach als 19-Jährige, dann als 27-Jährige, als 69-Jährige, als 12-Jährige und so weiter. Als Hilfeleistung für uns Zuschauer wird jeweils die gerade geltende Jahreszahl an die Rückwand projiziert.
Diese wilden Zeitsprünge bringen mit sich, dass die Hauptfigur von fünf Schauspielerinnen unterschiedlichen Alters dargestellt wird. In kurzen Szenen-Flashs, die aber wieder vollauf realistisch gestaltet sind, zumindest im Spiel und mit den Kostümen (Astrid Klein).
Ganz anders die Bühne von Johannes Schütz: Sie ist ein weiter, leerer Raum, der sich nach hinten in niedrigen Stufen leicht nach oben staffelt. Zentraler Aktionsort ist ein breites schmales Holzpodest im Vordergrund. Der Reiz dieser Einrichtung ist, dass die Protagonistinnen und Protagonisten aus den anderen (ruhenden) Zeit- oder Lebensabschnitten im Hinter- und auch mal im Vordergrund im Schatten stets präsent sind. Als wären sie stets präsente Erinnerungsbilder von früher oder Zukunftsvisionen.
Durchs Leben wursteln
Die Mary Page Marlowe, die wir kennenlernen, ist keine Figur, die mit aussergewöhnlichen Aktionen die Welt bewegt oder mit erschütternden Schicksalsschlägen berührt. Sie ist die Frau von nebenan, die «normale» Schicksalsmomente erlebt: die Scheidung von ihrem Mann, den Absturz als Alkoholikerin, den Seitensprung als jung Verheiratete, die Krankheit im Alter, die Konfrontation mit der zur Liebe nicht fähigen Mutter (zu der sie später selber wird), die Dispute mit ihrem Therapeuten. Eine Frau, die sich irgendwie durchs Leben wurstelt.
Zu sehen bekommt man aber nicht die Brüche im Leben an und für sich, sondern die diffusen Momente davor oder danach. Das ist zum einen reizvoll, vermag einen aber nicht voll zu packen. Das mag an der Inszenierung liegen, die den komplizierten Ablauf, die komplexen Kurzszenen zwar bewundernswert präzise und dadurch nachvollziehbar zeigt, sonst aber stets eine absolut neutrale Sichtweise beibehält.
So raffiniert und faszinierend das komplexe Handlungspuzzle auch ist, das unkommentierte Leben dieser Frau ist als zusammengesetztes Bild etwas langweilig. Ein zurückhaltender (deutscher) «Regietheater»-Überbau würde dem angelsächsisch geprägten Theaterabend vielleicht guttun.
Allzu langweilig wird es aber zum Glück nicht. Das liegt an den tollen Schauspielerinnen, vor allem den Darstellerinnen von Mary Page Marlowe: Moyra Studach, Lisa Stiegler, Franziska Hackl sowie – herausragend – Katja Jung und Irene Kugler. Ihnen schaut man, wie auch den vielen Nebenfiguren, sehr gerne zu.
Tracy Letts: «Mary Page Marlowe – eine Frau». Theater Basel, Schauspielhaus. Nächste Vorstellungen am 22. und 26. März und im April.