Wochengedicht #51: Ernst Halter

Wochengedicht #51: Ernst Halter über das «Grauen nach Mitternacht»

Wochengedicht #51: Ernst Halter über das «Grauen nach Mitternacht»

Grauen nach Mitternacht

 

Das Loch im Kopf

hirnoperiert.

Ich memoriere zur Sicherheit

Alpha Beta Gamma Delta –

‚unser Vater, der du bist im Himmel’ –

‘to be or not to be’ –

zähle die Finger, die Stuhlbeine,

zehn und vier –

‚über allen Gipfeln ist Ruh’

und hier rechts.

Nacht verstreicht die Fenster,

die Maschinen blinken auf stand-by.

In dieser Stunde lagen

zwei blaue Tiere, als wär‘s für immer.

Hier ist kein Licht.

Eine Krankenstation, im Bett ein frisch Operierter, dessen Zustand von Instrumenten überwacht wird. Die Überwachung wird nicht nur von den Maschinen besorgt, sie kommt auch vom Patienten selbst her, der fürchtet, sein zerebrales Kontrollzentrum, an dem der Eingriff erfolgte, könnte in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Sein Kontrollorgan nimmt eine Generalkontrolle über sich selbst vor, getestet werden das Erinnerungsvermögen, das abrufbare Wissen, das Zählvermögen, die Orientierung im Raum („hier rechts“).

Ein offensichtlich belesener Mensch hat Panik, er könnte seine geistigen Fähigkeiten verloren haben, der Titel spricht darauf an. Die blinkenden Instrumente vermögen ihn nicht zu beruhigen, sie wachen lediglich über die organischen Vorgänge, während es ihm überlassen ist, sich über die geistigen Rechenschaft zu geben.

Der Ruf der Poesie

Er nimmt sich das Basiswissen vor, führt einfache Denkoperationen durch, was darauf schliessen lässt, dass er seit dem Eingriff zum ersten Mal bei klarem Bewusstsein ist. In die sachliche Bestandesaufnahme bricht ein poetisches Bild ein („zwei blaue Tiere“), das sich von der formelhaften Aufzählung abhebt und etwas Persönliches zum Gegenstand hat. Für Aussenstehende ist nicht zu entschlüsseln ob es sich um eine Liebesszene, um ein Gemälde, einen Traum handelt. Ebenso bleibt ungewiss, ob der Zusatz „als wär‘s für immer“ auf die Zeitlosigkeit eines schönen Moments oder auf den Tod anspielt.

Dennoch hängt über den zwei Zeilen eine Aura, die das vielleicht Tröstlichste in dieser bedrohlichen Lage bereit hält – die Gewissheit, dass neben den rein mentalen auch die emotionalen Teile des Bewusstseins unversehrt geblieben sind.

Ernst Halter, 1938 in Zofingen geboren, war nach seinem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte als Lektor, Redaktor und Herausgeber tätig. Er publizierte Romane, Erzählungen und fünf Lyrikbände. Dem jüngsten, «Englische Suite», 2012 im Wolfbach Verlag erschienen, ist das Gedicht entnommen. Ernst Halter lebt in Althäusern.

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