Wochenstopp: Klingende Strahlung

Der Contrapunkt Chor leistet mit neuer Musik einen Beitrag zur Atomsemiotik.

Der Contrapunkt Chor: Ein Abend mit Musik über das Unfassbare. (Bild: zVg)

Der Contrapunkt Chor leistet mit neuer Musik einen Beitrag zur Atomsemiotik.

«Strahlung ist leichter als Licht» heisst das neueste Werk des Basler Komponisten Hans-Martin Linde. Es ist eine Kantate für Sopran, Bariton, Chor und Orchester, die auf dem gleichnamigen Gedicht von Ulf Stolterfoht fusst. Die Idee, sich musikalisch der industriellen Bändigung der Atomenergie zu nähern, ist nicht neu: Bereits 1975 veröffentlichte die deutsche Band «Kraftwerk» ein ganzes Album zur Radioaktivität. «Geigerzähler», «Ätherwellen», «Uran» heissen einzelne Titel; auch «Die Stimme der Energie». Doch wie kann etwas klingen, das man weder sehen noch fühlen noch schmecken kann? Wie kann man einer Energie eine Stimme ­geben, von der man im Alltag so stark profitiert, deren Gefahren aber schwer zu ­kontrollieren sind und über deren Lang­zeitfolgen Unwissen herrscht?

Um sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, vergab der Basler Contrapunkt Chor 2010 einen Kompositionsauftrag zum Thema Atomenergie. «Wir gingen damals davon aus, dass es in der Schweiz bald eine Volksabstimmung über den Bau neuer Atomkraftwerke geben würde», sagt Chormitglied Georg Geiger. Doch bald überschlugen sich die Ereignisse: Die atomare Katastrophe von Fukushima 2011 könnte den Anfang vom Ende der Atomenergie eingeläutet haben.

Doch selbst das Ende der Atomenergie wäre nicht das Ende der Strahlung, denn der gelagerte Atommüll ist mitunter erst nach 100’000 Jahren nicht mehr gefährlich. «Wir sind überfordert», sagt Geiger hinsichtlich dieser Dimensionen. Und hält gerade deshalb am musikalischen Atomprojekt fest. Denn in manchen Bereichen der Atomfrage kann eine künstlerische Auseinandersetzung besonders gewinnbringend sein.

Gekennzeichneter Atommüll

«Atomsemiotik» heisst das Fachgebiet, in dem sich Forscher seit Jahrzehnten mit der Frage beschäftigen, wie man Atommüll so kennzeichnen kann, dass die damit verbundenen Gefahren für die nachfolgenden Menschen erkennbar bleiben. Ein schwieriges Unterfangen – denn Zeichen bleiben nur verständlich, wenn sie gebraucht werden: Die gerade einmal 5000 Jahre alten Pyramiden wurden trotz aufwendiger Warnzeichen von Schatzgräbern ausgeplündert.

Damit Atommüll-Endlager dereinst nicht mit Schatzkammern verwechselt werden, gibt es allerhand Ideen, die Gefahren mit Tafeln, Skulpturen oder akustischen Signalen kenntlich zu machen. Andere plädieren für Priester, die das Wissen über Radioaktivität und Atommüll bewahren. Nicht eingeweihte Menschen sollen mithilfe von Legenden von atomaren Lagerstätten ferngehalten werden. Könnte Lindes Kantate Teil eines solchen Kultes sein?

Um deutlich zu machen, wie persönlich und wie zeitgebunden auch musikalische Zeichen sind, ergänzen Christophe Schiess’ Komposition «Now» sowie Begräbnismusik des Renaissancekomponisten Henry Purcell das Konzertprogramm. Ein Abend mit Musik über das Unfassbare.

  • Konzerte: Katholische Kirche Muttenz, 21., 22. (20 Uhr) und 23. 6. (19 Uhr). www.contrapunkt.ch.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 21.06.13

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