Wunderbar frappierende Entdeckungen

Bruckners Neunte gilt als unvollendet. Die Basel Sinfonietta macht die Schweiz nun erstmals mit einer vervollständigten Aufführungsfassung des vierten Satzes bekannt. Ein gelungenes Experiment.

Daumen hoch für die Basel Sinfonietta und ihr Bruckner-Experiment. (Bild: Alex Preobrajenski)

Bruckners Neunte gilt als unvollendet. Die Basel Sinfonietta macht die Schweiz nun erstmals mit einer vervollständigten Aufführungsfassung des vierten Satzes bekannt. Ein gelungenes Experiment.

Wenn man nach dem dritten Satz von Anton Bruckners Symphonie Nr. 9 noch nicht nach Hause gehen muss, sondern noch einen vierten Satz erleben darf, dann geht etwas Sensationelles vor sich. Die Arbeit am Finale hatte der Komponist in seinem Todesjahr 1896 nicht mehr beenden können – und so gehört die Neunte heute in die illustre Gruppe der Unvollendeten. Nur wenige wirre Skizzen seien vorhanden, hiess es, bis sich die Musikwissenschaft des Falls annahm. Dabei kam heraus, dass die Lage erfreulicher, aber auch komplizierter ist als gedacht: einen erheblichen Teil hatte Bruckner eben doch komplett fertigstellen können, andere Passagen liegen mehr oder minder ausführlich skizziert vor. Einiges freilich fehlt, doch tappt man auch hier nicht völlig im Dunkeln, weil die Durchnummerierung der Takte genaue Auskunft über Ort und Grösse der Lücken gibt. Wie viel Musik im vermeintlich Inexistenten liegt, führte Nikolaus Harnoncourt 2002 in einem auf CD dokumentierten Konzert mit den Wiener Philharmonikern vor – mit allen instrumentalen Lücken und leeren Takten.

 

Die Basel Sinfonietta wählte für ihr Konzert im Stadtcasino Basel einen weniger radikalen Weg und griff auf eine vervollständigte Aufführungsfassung zurück, die von den Musikwissenschaftlern und Komponisten Nicola Samale, John A. Phillips, Giuseppe Mazzucca und Benjamin Gunnar Cohrs erstellt wurde. Ob diese Vervollständigung einmal ebenso selbstverständlich etabliert sein wird wie etwa diejenige des Mozart-Requiems, muss die Zukunft zeigen. Hierzulande konnte sich das Publikum nun erstmals selbst ein Bild machen, und so war der Andrang der Bedeutung dieses musikalischen Ereignisses entsprechend hoch.

Wunderbar und verstörend

Was man im vierten Satz zu hören bekam, war in der Tat wunderbar und frappierend zugleich. Gegenüber dem dritten Satz mit seinem verstörenden Cluster-Akkord geht Bruckner im vierten noch einen Schritt weiter, dekonstruiert sein Material auf bei ihm sonst ungehörte Weise. Selbst wenn die vier Vervollständiger hier und dort nicht ganz im Sinne Bruckners spekuliert haben sollten, so zeigt sich doch, in welch zukunftsweisende Richtung Bruckner am Ende seines Schaffen aufbrechen wollte. Das Ohr wird gezielt auf Holzwege voller Irritationen und Abbrüche geführt. Und weil dieser Eindruck gerade durch die beinahe collagenartige Behandlung des Materials erweckt wird, stellt er sich unter dem ausgreifenden Spannungsbogen der vervollständigten Fassung noch stärker ein als etwa in Harnoncourts fragmentarischer Präsentation.

Musikalisch war dennoch nicht alles eitel Freude. Dies aber kann man weniger den Musikerinnen und Musikern der Basel Sinfonietta anlasten, die sich mit Verve in das Experiment stürzten und gerade in den Soli äusserst klangschön agierten. Am Pult jedoch stand mit Boian Videnoff ein junger Dirigent (*1987), der relativ kurzfristig für Stefan Asbury einspringen durfte und keine nennenswerte Bruckner-Erfahrung vorzuweisen hat. Videnoff setzte auf einen warm-voluminösen, aber auch intransparenten und wenig ausbalancierten Klang, er schlug grosse Bögen, verspielte aber auch viele Gestaltungsmöglichkeiten in den musikalischen Details und den Übergängen. Daraus resultierte ein eindimensionales, pathetisches Brucknerbild. Um den Reichtum an Strukturen und Klangfarben zu heben, der sich unter den scheinbar so massiven Kantilenen verbirgt, bedarf es eines nüchterneren und analytischeren Zugriffs.

Blosse Gewohnheit

Das Publikum bedankte sich gleichwohl mit grossem Applaus. Nicht zum ersten Mal an diesem Abend, denn schon nach dem dritten Satz war vereinzeltes Händeklatschen zu hören gewesen. War es blosse Gewohnheit, nach dem dritten Satz zu klatschen? Oder ein Hinweis auf die Zäsur zwischen Bruckner und seinen Vervollständigern? Oder war es gar ein kritisches Votum, dass hier eigentlich Schluss sein sollte und Experimente zu unterbleiben hätten? – In Anbetracht der wunderbaren Entdeckungen, die an diesem Abend gemacht werden konnten, kann man die Basel Sinfonietta nur beglückwünschen, dass sie das Experiment gewagt hat.

weiteres Konzert: heute, Montag 28. Januar 2013, 19.30 (Fribourg, Equilibre)

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