Zeruya Shalev: «Ohne Schmerz ist die Liebe nicht zu haben»

Liebe und andere Erschütterungen: Die israelische Autorin Zeruya Shalev liest im Volkshaus Basel aus ihrem neuen Buch «Schmerz».

Zeruya Shalev: «Normalerweise neige ich dazu, politische Interpretationen meiner Romane zurückzuweisen, aber ich denke, beim neuen Buch ist das zulässig.»

(Bild: imago)

Liebe und andere Erschütterungen: Die israelische Autorin Zeruya Shalev liest im Volkshaus Basel aus ihrem neuen Buch «Schmerz».

Vier Romane hat die Zeruya Shalev bisher über die Liebe geschrieben und diese in langen, ineinander verhäkelten Sätzen seziert, deren zahllose Kommas wie Narben gesetzt sind. Denn davon handelte die Liebe stets, wenn Shalev sie entkernt – von Hoffnung und Enttäuschung, die Wunden hinterlassen, die nur schlecht verheilen.

Doch erst mit ihrem neuen, fünften Roman «Schmerz» inszeniert die Israelin den individuellen Schmerz vor dem Hintergrund der nationalen Tragödie, die vor elf Jahren in ihr persönliches Leben hereinbrach. Während der zweiten Intifada überlebte Shalev knapp ein Selbstmordattentat in Jerusalem, dessen physische Nachwirkungen sie bis heute spürt. Von diesem Schmerz handelt ihr neues Buch.

Geschichte einer Ehe während der zweiten Intifada

Iris, die Protagonistin, leitende Schuldirektorin mit zwei Kindern und einer erschlafften Ehe, gerät ebenfalls während der zweiten Intifada in Jerusalem in einen Selbstmordanschlag. Sie überlebt nach mehreren Operationen und wochenlangen Spitalaufenthalten, aber der Schmerz ist nicht völlig verschwunden. Nach zehn Jahren meldet er sich zurück. Und reisst andere, ältere Narben auf. Den Verlust des Vaters, der im Jom-Kippur-Krieg starb, als Iris nur wenige Jahre alt war. Und die Trennung von ihrer Jugendliebe Eitan, der sie verliess, um nach dem Tod seiner kranken Mutter sich selbst zu finden.

Eitan taucht unerwartet wieder in ihrem Leben auf, als der ihr zugewiesene Schmerztherapeut, und Iris stürzt kopfüber zurück in die verlorene Jugend. Um Verantwortung geht es in «Schmerz», um die Verpflichtung gegenüber dem eigenen Glück oder jenem der Nahestehenden, was sich manchmal ausschliessen kann. Aber auch um die quälende Pflicht, sich um das Wohlergehen der «Anderen» zu kümmern, anstatt die Augen davor zu verschliessen. Insofern ist «Schmerz» ein sehr israelischer Roman.

Dass gerade in diesen Wochen, in denen Shalev auf Lesetour in Europa weilt, ihre Heimatstadt Jerusalem wieder Schauplatz von Attentaten und Toten auf beiden Seiten geworden ist, verschafft ihrem Buch einen bitteren aktuellen Kontext.

Zeruya Shalev, eines der zentralen Ereignisse von «Schmerz» ist ein Terroranschlag. Verspüren Sie wie Ihre Protagonistin Iris selbst die Wiederkehr eines Jahre zurückliegenden Schmerzes angesichts der aktuellen Anschläge in Israel und den Palästinensergebieten?

Zeruya Shalev: Einen posttraumatischen Schmerz wie Iris spüre ich nicht. Ja, ich habe einen Selbstmordanschlag überlebt, war verwundet und spüre gewisse körperliche Folgen noch. Wissen Sie, nach dem Anschlag habe ich mir geschworen, nie darüber zu schreiben. Nun ist die Geschichte wie von selbst aus mir geflossen, und ich bin erleichtert, dass ich Iris‘ Geschichte nicht zu meiner machte. Es ist kein autobiografisches Buch. Um auf Ihre Frage zurückzukommen – ich wurde in den letzten Monaten der zweiten Intifada verletzt. Kurz darauf hörten die Selbstmordanschläge auf, und das half mir, mich zu erholen. Es fiel einfacher, wieder Tritt zu fassen im Wissen, dass diese furchtbare Zeit vorüber war. Jetzt, da wieder Attentate stattfinden, kommen die Erinnerungen erneut hoch, die Bilder, die Ängste. Auf den Strassen von Jerusalem bin ich mit einem Pfefferspray unterwegs, und wenn ich rennende Schritte hinter mir höre, ist das Unbehagen sofort da. Als würde ich bereits ein Messer im Nacken spüren. Das ist eine Folge des Anschlags von damals, die mir erst jetzt bewusst wird.

In einer Szene schreibt die Lehrerin Iris einen Brief an die Eltern ihrer Schüler und informiert sie über ein interkulturelles Schulprojekt mit arabischen Kindern. Und legt den Brief deprimiert zur Seite, im Wissen, dass sich in Zeiten des wachsenden Extremismus kaum mehr jemand für versöhnliche Projekte interessiert. Ist das Ihr persönlicher Eindruck von der Gesellschaft Israels?

Als ich das Buch schrieb – ja. Wie viele andere israelische Linke war ich in einem Zustand der Agonie; wir fühlten, dass wir praktisch wirkungslos blieben angesichts der wachsenden Aggressivität auf den Strassen. Aber dann wurde ich im letzten Sommer Teil der Friedensorganisation «Women Wage Peace» und wir demonstrierten und fasteten während Wochen vor der Residenz von Premierminister Netanjahu in Erinnerung an den Krieg gegen Gaza im Jahr zuvor. Dort traf ich Frauen aus allen Schichten der Gesellschaft, die eine moderate Haltung teilten. Palästinenserinnen, die sich für Versöhnung einsetzten, und Frauen aus den israelischen Siedlungen, die sich bereit erklärten, für einen Friedensschluss ihre Häuser aufzugeben. Was uns verband, war die Furcht vor jeder Form von Extremismus, und da spielt es keine Rolle mehr, ob man Jüdin, Muslimin oder Christin war. Das waren hoffnungsvolle Wochen. Ich wünschte, die Vernünftigen und Moderaten würden häufiger zueinander finden und feststellen, dass sie gar nicht so wenige sind. Ja, aus heutiger Sicht würde ich Iris vielleicht einen anderen Brief schreiben lassen, aber das Buch ist, wie es ist.

Der Titel «Schmerz» meint in erster Linie den Schmerz durch Liebesverlust. Auch als Iris wieder auf ihre Jugendliebe trifft, ist trotz der hochfliegenden Gefühle der Schmerz immer da – der zukünftige, der zwangsläufig folgen wird, egal, wie sie sich entscheidet. Geht es nicht ohne in der Liebe?

Ja, es geht nicht ohne Schmerz. Heute erst recht nicht mehr, wo Bindungen ständig hinterfragt werden. Das ist in Israel nicht anders, trotz des ausgeprägten Familiensinns in unserer Gesellschaft ist die Scheidungsrate sehr hoch. Aber es geht bei Iris nicht nur darum, ob sie sich für die Familie oder für die neu-alte Liebe entscheidet, sondern um einen Konflikt zwischen zwei Gestalten der Liebe. Eine ist sehr symbiotisch und leidenschaftlich, aber auch derart verschmelzend, dass man als Individuum darin verschwindet. Die zweite Form mag weniger aufregend sein, aber lässt Raum für persönliche Entfaltung, weil eben nicht alles auf die Verzehrung von Liebe ausgerichtet ist. Es ist eine stabilere, vielleicht gar reifere Form. Sie lässt die Möglichkeit eines vielfältigeren Lebens offen, glaube ich.

«Manchmal stosse ich auf wunderbare Interpretationen meiner Bücher, an die ich nie gedacht hätte.»

Die israelische Soziologin Eva Illouz hat in ihren Büchern die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, unter denen wir uns für Liebe bereit erklären, aufgeschlüsselt. Sie meint: Wir lieben analog den Wertmassstäben unserer Gesellschaft. Es ist daher nicht erstaunlich, dass Iris mehrere Optionen testen will, während ihre Mutter, die durch den Krieg ebenfalls den Mann früh verlor, sich in ihr Schicksal gab und nicht nach einer neuen Ehe suchte.

Interessant. Daran habe ich nicht gedacht. Ich kenne Eva Illouz sehr gut, wir sind befreundet, aber ihre Bücher kenne ich leider weniger. Es ist aber in der Tat so, dass sich die unterschiedlichen Generationen in manchen Fragen wenig zu sagen haben. Iris und ihre Mutter haben beide traumatische Verluste erlitten, aber sie reagieren völlig anders. Doch lassen Sie mich Marcel Reich-Ranicki zitieren, den Literaturkritiker, der einst den wunderbaren Satz sagte: «Schriftsteller verstehen von der Literaturanalyse so viel wie Vögel von der Vogelkunde.» Da geht es mir nicht anders – manchmal stosse ich auf wunderbare Interpretationen meiner Bücher, an die ich nie gedacht hätte.

Dabei war Ihr Vater selbst einer der wichtigsten Literaturkritiker seiner Zeit.

Genau, doch das war damals nicht anders. Ich erinnere mich, wie berühmte Schriftsteller wie Amos Oz unser Haus besuchten und meinem Vater dankten. Sie sagten ihm, sie hätten keine Ahnung gehabt, worüber sie eigentlich geschrieben hätten, bis er sie in seinen Rezensionen aufklärte. Also öffnen Sie mir ruhig die Augen! (Lacht.)

Gerne. Ein anderes tragendes Thema Ihres Romans ist die Frage nach Schuld und Versöhnung – Iris‘ Familienmitglieder tragen alle ungelöste Schuldfragen und Vorwürfe mit sich herum und scheitern daran, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Auch diese Diagnose weist über die Familie hinaus und hinein in den israelisch-palästinensischen Konflikt.

Das lässt sich nicht leugnen. Normalerweise neige ich dazu, politische Interpretationen meiner Romane zurückzuweisen, aber ich denke, hier ist es zulässig. Denn Iris‘ Schmerz kommt eben nicht nur aus dem gebrochenen Herzen, sondern auch aus dem überlebten Anschlag. Und diese beiden Schmerzen verknüpfen sich, als sich ihr Therapeut als ihre Jugendliebe entpuppt. Ich glaube, die Diagnose stimmt für die private wie die politische Ebene: dass Verzeihung einfacher ist, wenn man sich in das Gegenüber versetzen kann und auch seinen Schmerz akzeptiert. 

Auffallend ist, wie jedes Familienmitglied sich in Schuldfragen zum Selbstmordanschlag verstrickt. Als wollten sie den Attentäter entlasten. Wie war das bei Ihnen?

Das sind klare Verdrängungsmechanismen, ja. In meiner Familie hat niemand unnötigerweise eine Verantwortung auf sich genommen, aber trotzdem greift ein Anschlag tief ins Familienverständnis hinein, wenn der Attentäter selbst ein Familienvater war. Wie soll man einen Familienvater hassen, der eines Tages beschliesst, sich in die Luft zu sprengen, und Unschuldige in den Tod reisst, womöglich sogar Kinder? Eine solche Person kann man nicht fassen, geschweige denn, starke  Gefühle wie Hass für sie entwickeln.

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Zeruya Shalev liest am Donnerstag im Volkshaus Basel aus ihrem neuen Roman «Schmerz». 3. Dezember, 19.30 Uhr.

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