Brasilien = Bossa und Samba. Mit dieser Gleichung ist erst einmal Schluss, denn mit «Ai Se Eu Te Pego!» steht Música Sertaneja, «Hinterlandmusik», auf Platz 1 der Schweizer Charts. Zur Musik des Sängers Michel Teló tanzen auch die brasilianischen Fussballstars.
«Heilige Mutter Gottes, du bringst mich um, wenn ich dich erwische, ah wenn ich dich erwische..», singt der Blondschopf mit den Grübchen, zwinkert in die Kamera und Hunderte Mädchen im Publikum schreien voller Entzücken mit. Michel Teló ist der Superstar der Música Sertaneja («Hinterlandmusik») aus dem Süden Brasiliens, die bisher keinerlei Rolle in der Schweiz spielte. Seit mehreren Wochen steht der 31-jährige Sonnyboy aus dem Bundesstaat Mato Grosso do Sul auf Platz Eins – und das nicht nur hierzulande. Auch in Italien, Spanien, Deutschland und den Niederlanden führt er die Hitliste an – das hat vor ihm kein Brasilianer geschafft.
Cowboy- statt Zuckerhut
Was steckt hinter dem Phänomen Michel Teló? In unseren Breitengraden runzelt man verwundert die Stirn. Denn bei Musik aus dem Lande des Zuckerhuts, klar, da denkt man natürlich zuerst an Samba und Bossa Nova. Doch jetzt könnte sich das ändern. Telós Stil ist die Música Sertaneja, und was man hierzulande bislang überhaupt nicht wusste: Diesen Klängen gehört, verkauftechnisch gesehen, das grösste Kuchenstück in der Musikindustrie Brasiliens. Seit den Achtzigern steht sie für ein Massenphänomen, ihre Verkaufszahlen übersteigen die aller anderen Genres bei weitem. Ihre Wurzeln hat sie in der Música Caipira, den autobiographischen Gesängen der Bauern, die mit nasalem Falsett in einer Art Moritaten-Ton über ihren Alltag berichteten.
Die Bauernlieder wurden verstädtert, bekamen eine zunehmend romantisch-kitschige und amouröse Prägung, nahmen Anleihen bei mexikanischen Mariachi und der Polka auf. Süsslicher Gesang im Duett wurde typisch, Akkordeon, E-Gitarre, Drums bestimmten zunehmend die Instrumentierung. Vom Zirkus und Rodeo verlagerte sich die Sphäre der Música Sertaneja ins Fernsehen und auf die grosse Bühne, ihre Cowboyhüte allerdings behielten die Interpreten oft auf. Die Lebensgeschichte eines der herausragenden Duos, Zezé Di Camargo und Luciano, wurde mit «2 Filhos De Francisco» gar in unseren Kinos ein Kassenknüller.
Latinlover mit Lausbubencharme
Michel Teló verkörpert nun die konsequenteste kommerzielle Weiterentwicklung der Música Sertaneja. Seit fünfzehn Jahren ist er bereits im Geschäft, verdient Spitzengagen, wird vom Magazin Forbes auf eine Popularitätsstufe mit Landsfrau Gisele Bündchen gestellt. Von Bäuerlichkeit ist bei ihm nichts mehr zu spüren, er vereint den Sexappeal des Latinlovers mit Lausbubencharme, und seine von Schrammelgitarre und wippendem Akkordeon getragenen Songs sind nicht ganz so pathetisch wie die seiner Kollegen, dafür umso griffiger. In der Heimat schmücken sich mittlerweile sogar Techno- und HipHop-DJs mit Telós Liedern, und das, wo Música Sertaneja ansonsten in diesen Kreisen eher als uncool verschrien ist
Dank Fussballstars zum Youtube-Hit
Dass er nun auch über Brasilien hinaus Chartsstürmer wird, hat er wohl dem Internet zu verdanken. Wie beim kürzlichen, ebenso überraschenden Spitzenreiter Gotye aus Australien kam die Popularität über Youtube: 80 Millionen Erstzugriffe hat Telós Single „Ai Se Eu Te Pego!“ bereits, und es wurden noch deutlich mehr, als Fussballstar Neymar zum Ohrwurm in einem Kabinenvideo die Hüfte schwang. Die Tanzbewegungen griff prompt Cristiano Ronaldo nach erfolgreich versenktem Tor für Real Madrid auf und verhalf Telós Lied zu einem weiteren Schub.
Ob die Hinterlandmusik aus Brasilien bei uns ein nachhaltiges Phänomen wird? Mit ihrem Schmachthymnen-Sound, der auch im Musikantenstadl nicht auffallen würde, hat sie jedenfalls eine riesige Zielgruppe. So hat der Plattenkonzern Universal Morgenluft gewittert und nun in Europa das komplette Live-Album von Michel Teló veröffentlicht, das einen knackigen Eindruck davon gibt, wie enthusiastisch es bei den Baladas, den Musik-Clubs der Metropolen zugeht, wenn der Liebling auf der Bühne steht. Bei Universal denkt man noch weiter: Teló ist in Europa für die großen Fernsehshows gebucht, arbeitet an einer großen Europatournee. Deren erster Ableger führt ihn am 6. März auch nach Zürich. Sein Konzert im Konzertlokal X-tra ist bereits ausverkauft, was unterstreicht: Brasilien = Bossa und Samba? Mit dieser Gleichung ist wohl erstmal Schluss.