Schöner kann kein Albtraum sein: David Lynch kratzt mit seinem surrealen Thriller am Lack einer heilen Kleinstadt.
Vorhang auf über dem idyllischen Holzfällerstädtchen Lumberton, wo die Zeit in den Fünfzigerjahren stehen geblieben zu sein scheint, die Lattenzäune schneeweiss und die Rosen rot sind wie Blut. Die Feuerwehr winkt artig beim Vorüberfahren, es ist kein Notfall. Noch nicht.
Im Garten wässert ein Mann seinen Rasen, der Schlauch verheddert sich, er geht in die Knie, von einem Schlaganfall getroffen. Dazu schnulzt Bobby Vinton «Blue Velvet», als wäre nichts geschehen, und die Kamera taucht ab zwischen die Grashalme, wühlt sich in den Boden, der von schwarz glänzenden Käfern untertunnelt ist.
Jetzt, wo sein Vater im Spital liegt, ist Jeffrey Beaumont (Kyle MacLachlan) alleiniger Herr des Hauses, in dem er mit seiner Mutter und einer senilen Tante wohnt. Regisseur David Lynch hat ihn so eingekleidet, wie er als Jugendlicher selbst angezogen war: als Biedermann in zugeknöpften Hemden und Bundfaltenhosen.
Jeffrey ist ein verantwortungsbewusster junger Mann mit einem Blick für das Morbide: Auf dem Heimweg vom Spital findet er ein abgetrenntes Ohr im Gras liegen. Er bringt es aufs Polizeirevier, wo der Polizeibeamte den neugierigen Hobbydetektiv auf Distanz hält. Dessen Tochter Sandy (Laura Dern) aber versorgt ihren Schwarm Jeffrey heimlich mit Informationen zu dem Fall.
Gewalt und Sex
Die Spur führt zur Nachtclub-Sängerin Dorothy, die so verletzlich wie gefährlich ist: Isabella Rossellini spielt die Femme fatale brüchig wie Glas, und Jeffrey verfällt ihr mit Haut und seitengescheitelten Haaren. «Du könntest die Tochter von Ingrid Bergmann sein», soll Regisseur Lynch das Model angesprochen haben, als sie sich kennen und für einige Jahre lieben lernten. Wie es der Zufall wollte, ist sie das tatsächlich: Im Stadtkino Basel ist noch bis Ende Jahr das Familienporträt «Rossellini-Bergman-Rossellini» zu sehen, in dessen Rahmen auch «Blue Velvet» läuft.
Monster in Menschengestalt: Frank (Dennis Hopper) und Dorothy (Isabella Rosselini).
Auf seinen nächtlichen Ausflügen zur dunklen Seite der Kleinstadt gerät Jeffrey in einen Strudel aus Gewalt und Sex: Die Nachtclub-Sängerin führt ein Doppelleben und wird von einem Monster in Menschengestalt heimgesucht. Frank (Dennis Hopper) heisst der Psychopath, der Dorothy misshandelt, sexuell nötigt – und ihr damit auch noch Lust zu bereiten scheint! Den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit wurde Lynch nach «Blue Velvet» nie wieder los, obwohl es Rossellinis Idee war, ihre Figur mit einem Stockholm-Syndrom auszustatten, bei dem das Opfer nicht vom Täter lassen kann.
Blaupause für «Twin Peaks»
Als «Blue Velvet» 1986 in die Kinos kam, sorgte er für Kritikerapplaus, Kontroversen und volle Kassen: Die ungewöhnliche Mischung aus Liebesdrama, Film noir und surrealem Horror ergab den perfekten amerikanischen Albtraum und die Blaupause für Lynchs TV-Serie «Twin Peaks» oder den Film «Mulholland Drive». Trotz seiner verstörenden Momente gilt er als einer der zugänglichsten Filme, die der «Jimmy Stewart vom Mars» je gedreht hat. Als einen «Traum von seltsamen Wünschen, eingewickelt in einen Thriller», beschrieb Lynch sein grossartiges Werk selbst.
In der letzten Einstellung, die ein verdächtig friedliches Familienidyll zeigt, schwenkt die Kamera hinauf in einen sonnendurchfluteten Sommerhimmel. Nach «Blue Velvet» wissen wir, dass auch das nur ein Vorhang ist: Dahinter wartet die Nacht.
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«Blue Velvet», 31. Dezember um 21 Uhr im Stadtkino Basel.
Die Retrospektive «Rossellini-Bergman-Rossellini» läuft noch bis zum 31. Dezember 2015.