Erstmals überhaupt trat Gloria Estefan gestern Abend in der Deutschschweiz auf. Die Sängerin hinterliess dabei einen ambivalenten Eindruck: Erzwungene Medleys trafen auf feurige Latinpop-Nummern, eigene Klassiker auf Jazzstandards. Ganz fantastisch war die Leistung des Kammerorchester Basel, das sie begleitete.
Dieses Projekt sei eine Herzensangelegenheit, betonte Gloria Estefan im Interview mit uns. Und sie wiederholte es am Dienstag Abend auch auf der Bühne, bei ihrem Konzert an der Baloise Session. «The Standards» heisst ihr neues Album, für das die 56-jährige Sängerin das Great American Songbook durchforstet hat. Sie interpretiert darauf alte Klassiker, Lieder, mit denen sie aufgewachsen ist, die mit ihrer Biografie verbunden seien. Sei es, weil ihr, dem Immigrantenkind aus Kuba, ein Lied als Steigbügel zum Eskapismus diente, weil es eine Sehnsucht weckte und stillte oder retrospektiv an ein wichtiges Ereignis erinnert – so wie Carlos Gardels Tango «El Día Que Me Quieras» an ihre Hochzeit vor 35 Jahren. Respekt!
«Normalerweise renne ich wie verrückt über die Bühne und singe Discopop», kokettierte Estefan zur Begrüssung. An diesem Abend wolle sie es aber ruhiger angehen. Was nicht heisse, dass man nicht tanzen dürfe, ergänzte sie neckisch. Der Stimmungsverlauf des Abends sorgte allerdings dafür, dass es ein wenig dauerte, bis in der vollbesetzten Messe-Eventhalle die ersten Stühle weggeschoben wurden.
Entertainerin mit Charme
Estefan wagte von Beginn weg eine Gratwanderung: Sie begann sanft mit «Good Morning Heartache». Für sie ein bedeutendes Stück, weil sie es bei ihrem Durchbruch mit der Miami Sound Machine vor 30 Jahren im Fernsehen sang, in Johnny Carsons legendärer «Tonight Show». Der Klassiker der Jazzlegende Billie Holiday wurde aber schon oft kopiert – und selten übertroffen. Auch nicht von ihr. Nett, aber auch vernachlässigbar.
Nett war sie auch den ganzen Abend über, die Sängerin. Sehr sympathisch, unterhaltsam. Mit ihrem Charme und ihren Ansagen hielt sie das Publikum bei Laune. Versprühte Liebe in alle Richtungen, Schmalz auch hin und wieder, lockerte diesen mit Selbstironie auf. Eine erstklassige Entertainerin, die hier zur Revue in Las-Vegas-Manier lud.
Und die sich – im Unterschied zu Dionne Warwick vor einem Jahr am gleichen Anlass – nicht lumpen liess: Voller Cinemascope-Sound, keine Waldhörner oder Streicher ab Synthesizer. Nebst ihrer Tourband bot Estefan ad-hoc drei Backing Vokalisten aus London auf sowie zwanzig Mitglieder des Kammerorchester Basel. Diese machten einen hervorragenden Job, brillierten im Ganzen wie auch mit Soloeinlagen, sei es auf der Violine, Trompete oder dem Saxofon. Das lokale Orchester demonstrierte eindrücklich, dass die jüngst verkündete Subventionserhöhung verdient ist – und erspielte sich mit diesem souveränen Auftritt auch bei Estefan und ihrer schillernden Band Respekt. Beste Werbung in eigener Sache also.
Erzwungene Medleys
So meisterhaft alle Instrumentalisten waren (auch Estefans langjähriger Perkussionist wirbelte – wenn es sich denn anbot – so souverän über Bongos, Congas und Timbales, dass es eine Freude war): Die Arrangements ihres Pianisten Shelly Berg überzeugten nicht immer. Er kombinierte Standards oft mit Estefans eigenem Material zu Medleys, was nicht darüber hinwegtäuschte, dass manche Anknüpfungspunkte gesucht und erzwungen wirkten. Hinzu kam, dass man sich dann und wann wünschte, ein Lied ganz am Stück statt als angedeutetes Versatzstück zu hören.
So wurde dem Publikum bald klar, dass an diesem Abend zusammengerückt und zusammengedrückt wurde, was nicht immer zusammenpasste: Hier die Erwartungshaltung der Fans, die sich Estefans Klassiker wünschten und jubelten, wenn mit einem herrlich sehnsüchtigen Song wie dem fantastischen Salsa «Mi Tierra» endlich Fuego unterm Dach entfacht wurde. Da Estefan selber, die eigentlich vor allem alte Jazznummern singen und zugleich keine Erwartungen enttäuschen wollte.
Höhen und Tiefen nah beieinander
Verführerische Stücke wechselten sich so mit vernachlässigbaren ab, Zeit- und Stilsprünge zerstückelten die Dramaturgie. Hier ein Eighties-Stampfer Marke Eigenbau («Bad Boy» oder «1,2,3»), dort eine Chaplin-Nummer («Smile»). Es gab auch gelungene Momente, etwa eine hinreissende Kombination aus dem brasilianischen Bossa «Eu Sei Que Vou Te Amar» mit «Conga», ihrem grössten Hit, den sie in einer verführerischen Slo-Mo-Version einbettete.
Mit ihrer im Range eher eingeschränkten Stimme, tat sie sich beim fremden englischsprachigen Material aber oft keinen Gefallen. Dunkles Timbre kam einzig bei spanischen und portugiesischen Interpretationen zur Geltung. Ganz besonders deutlich wurde das in ihrer an Harmlosigkeit kaum zu überbietenden Version von «What A Wonderful World», welches auch noch mit kitschigen Visuals angereichert wurde. Manche Klassiker sollte auch die Latinpop-Königin nur unter der Dusche singen, besonders wenn aus diesen (in diesem Fall von Louis Armstrong) längst das Maximum herausgeholt worden ist.
Schade, zumal Estefan uns nichts mehr beweisen müsste: Ihre Qualitäten sind unbestritten, mit ihrer Kombination aus Disco und Latin-Flavour hat sie ein ganzes Genre global bekannt gemacht und geprägt. «Conga» in der Originalversion brachte nach zwei Stunden den Saal zum Kochen. Zu spät, wie man den Gesichtern vieler Gäste ansah. Auch dazwischen rief sie in Erinnerung, welche Qualitäten ihr eigenes Repertoire birgt, nicht nur im Uptempo-Bereich, sondern auch jene Songs voller katholischem Pathos: «Coming Out Of The Dark» etwa, das sie nach ihrem schweren Verkehrsunfall schrieb, bei dem sie sich 1990 den Rücken brach und beinahe im Rollstuhl landete. Die Ballade trug sie voller Inbrunst vor, die Kombi aus Pop und Gospel war dick aufgetragen, entfaltete aber Wirkung.
Gerne würde man Gloria Estefan, auf die man 30 Jahre lang warten musste, noch ein zweites Mal in der deutschen Schweiz live erleben. Dann aber mit einem homogeneren Set, bei dem sie ausschliesslich ihre grossen Stärken ausspielt. Die Tanzschritte für Merengue und Salsa, das wurde am Dienstag deutlich, hätten viele Schweizer Fans bereits intus.