Zwischen Wildwald und Steinbruch an der Moselquelle

In Bussang, mitten in den Vogesen, wird jeden Sommer in einer Scheune Theater gemacht. Ein Grund für Theaterfreunde, einen Ausflug über die Grenze und in die Natur zu wagen.

Aurélien Labruyère, Jean-Marie Frin und Marion Lambert (v.l.) auf der Bühne im Wald bei Bussang. (Bild: zVg/Eric Legrand)

In Bussang, mitten in den Vogesen, wird jeden Sommer in einer Scheune Theater gemacht. Ein Grund für Theaterfreunde, einen Ausflug über die Grenze und in die Natur zu wagen.

Irgend wann ist genug Heu unten: Dann bleibt Platz, um Theater zu spielen. So geschieht das, seit mehr als hundert Jahren, jeden Sommer, in der grössten Scheune der Vogesen, im «Théâtre du Peuple» (TdP) in Bussang. 60 km von Basel weg. Mitten in der Pampa. Mit Erfolg. Das Publikum kommt aus der Region, oder von weit her, zahlreich, selten im Abendkleid – die Vorstellungen finden ja meist auch am Nachmittag statt.

Die Scheune ist längst keine Scheune mehr, sondern ein prächtig rustikales Theater von und mit Rang: Eichengebälk und tannige Sitze: In Bussang trifft sich im Sommermonat August jeweils ein Ableger der französischen Festival-Szene: Die aus Professionellen und Amateuren zusammengestellten Truppen zeigen Eigenproduktionen, laden andere Truppen ein, veranstalten Streitgespräche und halten Stages und Weekends des Citoyens für Aussenstehende (z.B. am Wochenende vom 27./ 28. 7. mit Ariane Mnouchkine) und kooperieren mit anderen Häusern. In diesem Jahr mit der Oper Metz.

Die Oper Metz spendet mit ihrer Ballet-Compagnie am Eröffnungstag einmalig «Crossings 1»: Zu Ravels «Bolero» variieren die Tänzerinnen Jacques Tatis Bewegungs-Alphabet auf dem Naturdorfplatz. Spätestens als die Wolken sich immer dichter über den Berggipfeln zu einem imposanten Bühnenbild formieren, begreifen wir, mit welchem Risiko die Künstler sich diesen Ort jedes Jahr, seit 1895, erobern.

Mörderische Verhältnisse

Das Théâtre du Peuple hat seit dieser Spielzeit eine neue Leitung. Vincent Goethals setzt auf Ernst. Das heißt nicht unbedingt, dass man sich weniger auf die Schenkel klopft als früher. Aber gewiss mehr auf die Schultern. Weil große Themen angepackt werden. Als erstes nimmt sich das Team um Vincent Goethals gleich eines Themas an, das normalerweise Partygäste in die Flucht treibt: Israel-Palästina.

«Caillasses», das sind die wuchtigen Ecksteine in den Bruchsteinmauern. «Caillasses» heißt die neue Eigenprodukton des TdP, erzählt eine Geschichte, die sich während des trojanischen Krieges, während der Apartheid ins Südafrika oder eben in Gaza abspielen könnte: Überall dort, wo mörderische Verhältnisse versteinern, Todesangst sich an Menschen über Jahre festbeissen konnte, Grenzen zu Mauern werden.

Meriem will zu ihrem Bruder Farouk. Farouk wohnt auf der anderen Seite der schwer bewachten Grenze. Meriem hat einen Schlepper bezahlt, um sie nach drüben zu bringen, dort wo die Menschen keine Rechte haben. Das misslingt. Als Meriems Bruder Farouk gefoltert wird, beschließt Meriem, nicht zu Farouk zu gehen, sondern Farouk zu sich zu holen. Aber Farouk ist alt. Er will nicht noch einmal neu anfangen. Lieber bleibt er in den versteinerten Verhältnissen. Also schickt er seine Tochter in das neues Leben in Freiheit. Der Schlepper bringt Adila durch den Stacheldraht.

Adila, die junge Frau, wird erst in  der neuen Freiheit von ihrer alten Gefangenschaft eingeholt. Sie kann hier nicht leben, ohne von den Erniedrigungen Gefangenschaft drüben eingeholt zu werden. In der Verzweiflung sprengt sie sich – und einige Unschuldige – in die Luft, und gerät in eine neue Gefangenschaft. Die der Schuld.

Unlösbarer Konflikt

Der Dramatiker und Romancier Laurent Gaudé hat das Stück als Auftragsarbeit verfasst. Er dekliniert den «Unlösbaren Konflikt» in seiner Tragödie mit bewährten Theatermitteln: Die Figuren wechseln die narrativen Seiten. Mal handeln sie. Mal erzählen sie. Ein Chor darf uns in griechischer Tradition die Handlung erhellen. Vers-Passagen vertiefen die Konflikte. Die Regie von Goethals tut das Ihre, den lyrischen Duktus zu erweitern: Mir Musik wuchtet er filmischen Pathos in die Bilder.

Marion Lambert treibt die Verzweiflung Adilas in den Tanz. Der Spielraum wird immer wieder in den Zuschauerraum erweitert. Die Schauspieler dürfen schon auch mal ein wenig altfranzösisch deklamieren. Jean-Marie Frin singt fast, wenn er seinen Farouk spricht. Der Sprech-Chor hingegen engagiert sich vollmundig – letztlich zu brav. Das alles hat den Charme einer schmalen Oper, und manchmal, wenn man sich auch noch im riesigen Gebälk der opernhaft rustikalen Jugendstil-Scheune umsehen darf, ist es schlicht fantastisch, dass an diesem Ort solches geschieht.

Wenn dann im letzten Akt, unter den Steinen der Toten, sich noch die Bühnen-Rückwand öffnet und den Blick freigibt auf den Wald dahinter, darf auch von jenen, die das Thema Palästina sorgsam meiden, laut «Ahhh!» gerufen werden: Im taghellen, echten Wald, der nun zum Bühnenbild wird, nimmt das Unheil seinen letzten Anlauf: Das «Schotter-Kind», das personifizierte Unheil, trägt die Selbstmordattentäterin zurück zu den Steinen. Vielleicht wäre diese Auflösung der Aufführung als Schluss besser bekommen als die daraufhin folgende Nacht der Gewissensbisse.

Am frühen Abend werden wir dann wieder in die Vogesen entlassen und verlassen einen der sonderbarsten Orte der Theaterlandschaft Frankreichs. Am Fusse des Ballon d’Alsace fahren normalerweise Snowboarder, Wanderer oder die Besucher der «Vide Greniers» vorbei – auf dem Rückweg: Es sind von dort nur noch ein paar Autominuten bis in die kulinarischen Weihestätten des Elsass. Das ist zu schaffen.

  • Bis Ende August laufen die Vorstellungen im Sommertheater von Bussang/Büssingen immer Fr-So.

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