Zwölffaches Ideenfieber bringt die alte Zollhalle zum Glühen

Zugegeben, der Zeitpunkt könnte besser sein für extreme Theaterexperimente an der Stadtperipherie. Aber während am Theaterfestival vor allem Fertigkost aufgetischt wird, gibt es bei den Hochleistungskünstlern von 96amstück den ganzen Prozess. Vorausgesetzt, man hat Appetit drauf.

Unter gut 40 Anmeldungen mussten die Macher ihre Auswahl treffen. Die Möglichkeiten, sich in der freien Theaterszene zu vernetzen, sind begrenzt und demensprechend beliebt.

Zugegeben, der Zeitpunkt könnte besser sein für extreme Theaterexperimente an der Stadtperipherie. Aber während am Theaterfestival vor allem Fertigkost aufgetischt wird, gibt es bei den Hochleistungskünstlern von 96amstück den ganzen Prozess. Vorausgesetzt, man hat Appetit drauf.

Ganz schön heavy: Da spielt sich auf dem Kasernenareal eine sauber vorbereitete Hundertschaft von Performern und Schauspielern während des Theaterfestivals einen Stiefel ab und reklamiert alle künstlerische Aufmerksamkeit für sich…

Und drüben in der alten Zollhalle am Bahnhof St. Johann treffen sich 12 Jungschauspieler vier Tage vor ihrer gross angekündigten Aufführung und haben: nichts.

Wobei: Den inoffiziellen Theaterpreis in der Kategorie «stärkste Nerven» hat die Truppe mit ihrem Wagnis schon mal auf sicher. Damit allein wurde aber noch keine Blamage abgewendet. Darum tun die Schauspielerinnen und Schauspieler gut daran, alle Hebel in Bewegung zu setzen. Und das tun sie seit Dienstagmorgen. Verbleibende Dauer bis zur Aufführung: 96 Stunden.

Eine gehörige Portion «Ideenwut»

Was innerhalb dieser vergleichsweise kurzen Zeit geschieht, ist nicht weniger als ein künstlerischer Drahtseilakt. Ein Fehltritt zu viel, und das ganze Experiment sackt ab. Damit das nicht passiert, begeben sich die 12 in einen kollektives, kreatives Tunnelerlebnis, dessen Ausfahrt direkt auf die improvisierte Bühne in der Zollhalle mündet. Publikum wird da sein, die Scheinwerfer werden brennen, der Staub die Luft durchrieseln, nur Vorhang wird keiner aufgehen. Denn da ist kein Vorhang.

96amstück nennt sich dieses Projekt, das bereits im vergangenen Jahr mit einigem Erfolg eine Erstauflage erlebte. Jetzt steht die zweite Auflage ins Haus. Jonas Darvas, der mit Daniel Wernli und Jonathan Kakon zu den Initianten zählt, weiss also, wovon er spricht, wenn er den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eine gehörige Portion «Ideenwut» attestiert.

Endlich loslassen, das Textheft beiseite legen und frei schaffen.

Dienstagmorgen, 9.00 Uhr. Zu früh für Wut, dafür glüht da Ideenfieber auf den Gesichtern der 12. Rasch haben sich drei Gruppen gebildet, Musiker mit Tänzerinnen, Schauspielerinnen mit Szenografen: Die individuellen Fähigkeiten und das künstlerische Handgepäck werden so zusammengewürfelt, dass sich daraus besonders fruchtbare Kombinationen ergeben.

Daniel Wernli und Jonas Darvas haben in Basel schon einmal mit einem aussergewöhnlichen Theaterexperiment auf sich aufmerksam gemacht: Einer gefakten Start-up-Kampagne als Debattenbeitrag zur Bespielung der Hafenscharte:

Jungunternehmer sorgen mit Luxusprojekt auf dem Hafenareal für neue Diskussionen

Der folgende Prozess war für die 12 ein entscheidender Anreiz, sich um eine Teilnahme an 96amstück zu bewerben. Endlich loslassen, das Textheft beiseite legen und frei schaffen.

Der Beobachter kann nur staunen, mit welchem Höchstmass an Sensibilität und künstlerischer Reflexion die durch die Absenz üblicher Leitplanken entstandenen Lücken gefüllt werden. Anhaltspunkte für frühe Szenenskizzen sind der Raum, die Lichtverhältnisse, der Geruch, die Geräusche rund um die Halle und die Frage, wie man sich als Ortsfremder eigentlich zu all dem verhält. Was hat eine alte Zollhalle am Bahnhof St. Johann mit der Regieassistentin aus München zu tun? Welche biografischen Erinnerungen verflicht der Berliner Regisseur mit dem Knarren der altersschwachen Holzbretter oder den Umrissen einfallender Lichtkegel?

Und wie verhält sich eigentlich das Publikum zu all dem?

Durch die beinahe greifbare Hypernervosität der Theaterschaffenden erwachsen aus Details Geschichten, die dem alltagsgetrübten Auge niemals auffallen würden. Hier aber werden sie zu Cliffhangern, zu Pointen, Paraphrasen und Posen. Zu allem eben, was Theater ausmacht.

So weit, so aufregend. Was aber hat das Publikum davon, wenn es am Freitagabend den Gang in die Zollhalle antritt? Der Prozess wird dann nur noch als möglichst pannenbefreite Best-of-Show zu haben sein, das Knistern von unterwegs – verpufft?

Nein. Nicht, wenn es den Zuschauerinnen und Zuschauer gelingt, vom Kino- in den echten Theatermodus zu schalten und das Wagnis einzugehen, beim Betreten der Halle deren ursprüngliche Leere in sich aufzusaugen. Erst auf dieser Tabula rasa kann während der folgenden Raumbelebung ein zweiter, hochkonzentrierter Prozess entstehen, an dem alle teilhaben. Und in den sich das Publikum wie zuvor die Spielenden einklinkt mit seinen Assoziationen und Interpretationen. Und im besten Fall mit der Frage, wie es sich zu all dem eigentlich verhält.

Wie die Halle vor Probebeginn ausgesehen hat? Voilà:

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96amstück gibts als Werkschau nur einmal zu sehen: Freitag, 2. September, um 20.00 Uhr in der alten Zollhalle am Bahnhof St. Johann. Eintritt: Pay what you can.

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