10 Jahre nach Beslan setzt Putin selbst auf Separatismus

In Beslan starben vor zehn Jahren bei einer Geiselnahme durch Tschetschenen und der Befreiung durch russische Spezialeinheiten über 300 Menschen. Präsident Putin hat den Separatismus damals mit allen Mitteln bekämpft. Heute fördert er selbst solche Tendenzen.

Andacht im Gymnasium: Für die zahlreichen Opfer wurden Blumen hingelegt und Kerzen angezündet. (Bild: Yuri Kochetkov)

In Beslan im nördlichen Kaukasus starben vor zehn Jahren bei einer Geiselnahme durch Tschetschenen und der Befreiung durch russische Spezialeinheiten über 300 Menschen. Präsident Putin hat den Separatismus der Teilrepublik Tschetschenien damals mit allen Mitteln bekämpft. Heute fördert er selbst solche Tendenzen – in der Ukraine.

Es hätte ein Tag der Freude werden sollen, der erste Schultag in Beslan im Nordkaukasus. Am 1. September 2004, heute vor zehn Jahren, waren auch die Eltern der Kinder gekommen, um mit Musik, Tanz und Gedichten den Schulbeginn zu feiern. Es wurde aber ein Tag der Verstörung und des Schreckens, weil tschetschenische Terroristen, die über die innerrussische Grenze nach Nordossetien gelangt waren, in Beslan in die Schule Nummer eins eindrangen. Dort nahmen sie über 1200 Menschen als Geiseln. Sie pferchten sie wie Vieh in eine Turnhalle, an deren Decke sie Bomben befestigten.

Nach zwei Tagen stürmten russische Sicherheitskräfte die Schule. Über 300 Personen, darunter die Mehrheit Kinder, fanden bei der gewaltsamen Befreiung den Tod. Auch die Terroristen wurden mit einer Ausnahme angeblich alle getötet.

Für die Überlebenden war das Drama noch lange nicht zu Ende. Sie erwarteten eine akribische Untersuchung der Ereignisse durch die russischen Behörden. Dies geschah aber nicht. Zwar wurde der angeblich einzig überlebende Terrorist, Nurpascha Kulajew, 2006 von einem ossetischen Gericht zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt. Viele Menschen in Beslan sahen sich aber als Opfer einer Verschleierungstaktik durch die Behörden, und der russische Untersuchungsbericht zu den Ereignissen lässt in der Tat vieles im Dunklen.

Vorwürfe an den russischen Geheimdienst

Nach offiziellen Angaben begann der Sturm auf die Schule durch die russischen Sicherheitskräfte, nachdem die Terroristen zwei Bomben gezündet hatten. Ein nordossetischer Untersuchungsbericht deutete aber darauf hin, dass die ersten Explosionen durch russische Geheimdiensteinheiten verursacht worden seien. Es gibt auch Hinweise, dass der Einsatz von Brandgranaten durch die russischen Spezialeinheiten zu einem Feuer in der Turnhalle führte. In der Folge stürzte das Dach der Turnhalle ein, und viele Geiseln fanden dadurch den Tod.

Versäumnisse der russischen Sicherheitskräfte seien also Schuld am Tod vieler Geiseln, lautet der Vorwurf der Angehörigen. Schon zwei Jahre zuvor bei der Beendigung eines Geiseldramas im Moskauer Dubrovka-Theater (als das Musical «Nord-Ost» gespielt wurde) waren über 100 Zivilisten ums Leben gekommen, weil der russische Geheimdienst ein giftiges Gas ins Gebäude einleiten liess.

Moskaus Krieg gegen Tschetschenien, Putins Aufstieg

Erstmals hatte sich in Beslan eine terroristische Aktion gezielt gegen Kinder gerichtet. Deshalb, und weil der Westen noch unter dem Schock der Anschläge vom 11. September 2001 in den USA stand, äusserten viele Regierungen höchstens verhalten Kritik am russischen Vorgehen und der Bewältigung der Krise.

Moskau hat mit seinem Krieg ab dem Jahr 1999 gegen das abtrünnige Tschetschenien für grausame Aktionen tschetschenischer Separatisten wie in Beslan den Boden bereitet. Der Feldzug gegen Tschetschenien wurde mit äusserster Härte geführt, und dafür verantwortlich war zunächst als Premierminister und dann ab dem Jahr 2000 als Präsident Wladimir Putin. Ja, er verdankt diesem Krieg sogar seinen rasanten politischen Aufstieg.

Viele offene Fragen

Zur Tragödie von Beslan bleiben viele Fragen offen, neben der nach einer Mitschuld der russischen Sicherheitskräfte an der hohen Opferzahl zum Beispiel, ob ein Teil der Geiselnehmer nach dem Anschlag entkommen konnte. All dies würde dafür sprechen, dass die Geschehnisse nochmals untersucht werden sollten, am besten durch eine internationale, unabhängige Kommission.

Websiten, welche die Geschehnisse kritisch aufarbeiten möchten wie www.pravdabeslana.ru, wird in Russland immer wieder der Saft abgedreht. Zehn Jahre nach Beslan warten die überlebenden Opfer und die traumatisierten Angehörigen noch immer auf Gerechtigkeit.

Im Konflikt um Tschetschenien konnte sich Moskau mit einigem Recht auf den Standpunkt stellen, dass das Territorium der Russischen Föderation unversehrt bleiben müsse. Aktuell befeuert Moskau in der Ukraine separatistische Tendenzen, Putin schickte sogar russische Soldaten in die Ukraine. Russland muss sich deshalb widersprüchliches Verhalten vorwerfen lassen. Es fördert beim Nachbarn Tendenzen, die es im eigenen Haus einst bekämpft hat.
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Dieser Text erscheint in leicht gekürzter Fassung ebenfalls auf der Website der Basler Nicht-Regierungsorganisation «Freunde Ossetiens», die sich um die Unterstützung der Opfer in Beslan kümmert.

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