Cristina ist eine von 5000 Sans-Papiers, die in Basel leben. Sie arbeitet, bezahlt ihre Rechnungen, lebt ihr Leben. Im März wird ihr Schicksal eine Wendung nehmen: Sie stellt einen Antrag auf Bleiberecht und riskiert damit ihre Wegweisung.
Es ist ein kleiner Versprecher, der das gespaltene Selbstverständnis von Cristina* auf den Punkt bringt. «Ich bin nicht wie eine normale Person», sagt sie, «also schon normal, aber eben nicht wie die andern, verstehen Sie?» Cristina sitzt in einem Büro in der Kleinbasler Altstadt, grüne Jacke, Schal, blondierte Haare. Als sie zum Gespräch erscheint, hat sie einen harten Arbeitstag hinter sich: «Es gab viel zu putzen nach der Fasnacht.» Cristina ist müde.
Trotzdem willigte sie in ein Treffen ein. Cristina ist eine Sans-Papiers und einer von acht Fällen, deren anonymisierter Antrag auf Regularisierung vom Justiz- und Sicherheitsdepartement als wenig aussichtsreich eingestuft wurde (die TagesWoche berichtete). Im März wird sie dennoch einen ordentlichen Antrag einreichen, bis dahin gilt: keine Fotos, die ihre Identität offenlegen könnten. Was sie aber bereitwillig offenlegt, ist ihre Geschichte.
Abbruch der Perspektive
Kurz vor der Jahrtausendwende verliess Cristina zum ersten Mal überhaupt ihre Heimat in Brasilien und reiste in die Schweiz. Von São Paolo nach Flüh bei Mariastein – man glaubt Cristina, wenn sie sich sagt: «Nichts war, wie ich es gekannt hatte, gar nichts.» Ihre Ausbildung zur Lehrerin in Brasilien hatte sie gern absolviert, doch danach ging es nicht weiter. Sie fand keinen Job, weder in ihrer Heimatstadt noch in São Paolo, einer der grössten Metropolen der Welt. Über eine Freundin ergab sich der Kontakt nach Flüh, wo eine Landsfrau eine Haushaltshilfe suchte. Kurz danach sass sie im Flugzeug.
Von São Paulo nach Flüh, Solothurn. «Nichts war, wie ich es kannte, gar nichts», sagt Cristina. (Bild: ALEXANDER PREOBRAJENSKI)
Cristina war damals bereits 32 Jahre alt, ihre Perspektiven schlecht. Sie wollte keine weiteren Jahre als unbearbeitetes Dossier in Bewerbungskarteien verschwenden, sie wollte arbeiten. Natürlich wollte sie auch endlich ihr eigenes Geld verdienen, sagt sie, aber vor allem sollte ihr Leben endlich losgehen. Endlich etwas tun können, endlich Verantwortung übernehmen. In Flüh lernte sie Ordnung zu machen und sich um Kinder zu kümmern. Der Lohn: Kost und Logis, dazu 350 Franken Taschengeld für Kleider und das Tramticket.
Das war nicht viel Geld. Und die Hausarbeit war auch nicht die erhoffte Startrampe in ein neues Leben. Cristina hätte nach den ersten zwei Jahren wieder nach Brasilien zurückkehren können, aber sie blieb. Sie zog von Flüh in die Stadt, fand Freunde und jobbte sich durch. Als Haushaltshilfe, meistens als Putzfrau. Ihre Selbstachtung nahm dadurch keinen Schaden, auch wenn sie das Misstrauen kränkte, das ihr entgegenschlug. «Was willst du hier», tönte es nicht selten aus den Vorgärten, die die Plattenwege zu ihrem Arbeitsplatz säumten. In den Häusern war Hinsetzen während des Putzens verboten.
«Heiraten hat mit Liebe zu tun, nicht mit einem Stück Papier.»
Warum hat Cristina damals nicht auf Umwegen versucht, eine Aufenthaltsbewilligung zu erhalten? In ihrem Freundeskreis, der sich aus Brasilianern, aber auch Schweizern zusammensetzt, wird sie oft mit dieser Frage konfrontiert. Warum hast du nicht geheiratet? Warum bist du noch immer ledig? Die Fragen stiessen Cristina sauer auf. «Es ist nicht meine Entscheidung, dass ich noch niemanden getroffen habe, den ich heiraten möchte», sagt Cristina. «Und Heiraten hat mit Liebe zu tun, nicht mit einem Stück Papier.»
Das Gesetz sieht vor, dass rechtswidrig anwesende Migrantinnen und Migranten die Schweiz sofort verlassen müssen, ausser wenn ein «schwerwiegender persönlicher Härtefall» vorliegt. Bei einem Härtefall kann ein individuelles Gesuch gestellt werden. Kriterien wie Dauer der Anwesenheit in der Schweiz, Arbeit, Integration, Einschulung der Kinder, Gesundheit und andere entscheiden über die Beurteilung des Gesuches, wobei das Amt für Migration über einen gewissen Ermessensspielraum verfügt. Die Behörden gehen davon aus, dass bei einem Aufenthalt von weniger als fünf Jahren kein Härtefall vorliegt. Erst bei längerem Aufenthalt wird ein Gesuch ernsthaft geprüft.
Für Bürgerinnen von ausserhalb des EU-/EFTA-Raumes ohne gute Arbeitsqualifikation ist eine Arbeits- oder Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz beinahe unerreichbar. Cristinas Ausbildung zur Grundschullehrerin erfüllt die Kriterien für einen Ausnahmefall nicht. Aber Fakt ist, dass sie seit 17 Jahren in Basel lebt und während all dieser Jahre einen unbestreitbaren «Wille(n) zur Teilhabe am Wirtschaftsleben und zum Erwerb von Bildung» zeigte, wie es Artikel 31 der Verordnung über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit für schwerwiegende persönliche Härtefälle verlangt.
Angst als ständiger Begleiter
Teilhabe am Wirtschaftsleben heisst aus ihrer Perspektive arbeiten von morgens bis abends, Rechnungen bezahlen und in guten Zeiten am Konsumkreislauf teilnehmen. Sie tut alles, was normale Bürgerinnen auch tun.
Nicht normal ist ihre Angst, entdeckt zu werden. Entdeckt, verhaftet, ausgeschafft – das könnte ganz schnell gehen. Diese Angst ist Cristinas ständiger Begleiter, eine Belastung, die über Jahre hinweg nur schwer zu ertragen ist. Basel ist Cristinas Heimat geworden, hier kennt sie jede Strasse, jeden Platz. Dennoch fällt es ihr schwer, den öffentlichen Raum zu geniessen. «Alles was ich will, ist endlich einmal – ffffffhh – ausatmen zu können.»
Es gibt ein paar Sachen, die sie sich versprochen hat, sollte ihr Antrag auf Bleiberecht Mitte März gutgeheissen werden. Was das ist, will sie nicht verraten, vielleicht aus Diskretion, vielleicht aus Selbstschutz. Wünsche und Träume haben manchmal auch mit Papieren zu tun, und wer die nicht hat, träumt diskreter.
* Name geändert