Ein Gericht in Kairo hat den 2013 entmachteten Präsidenten Mohammed Mursi zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Er soll zum Mord an Demonstranten angestachelt haben. Bis heute gehen die Behörden mit aller Härte gegen seine Muslimbrüder vor – und das wird sich nicht so schnell ändern.
Unter grossen Sicherheitsvorkehrungen hat Richter Ahmed Sabri am Dienstag in der Kairoer Polizeiakademie das erste Urteil gegen den ersten frei gewählten Staatschef Ägyptens verkündet. Mohammed Mursi war schuldig befunden worden, für den Tod von Demonstranten vor dem Präsidentenpalast im Dezember 2012 verantwortlich zu sein.
Mit ihm wurden 14 weitere Kader der Muslimbrüder verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte sogar von Mord gesprochen. Diesen Anklagepunkt, für den der Ex-Präsident die Todesstrafe erhalten hätte, sah das Gericht als nicht erwiesen und sprach ihn frei.
Bis das Urteil rechtskräftig ist, wird es noch Monate, wenn nicht Jahre dauern. Es steht die Möglichkeit der Berufung offen. Weitere Richtersprüche gegen den Ex-Präsidenten in vier andern Verfahren werden in Kürze erwartet. Dort wird Mursi unter anderem beschuldigt, mit fremden Mächten kooperiert, Staatsgeheimnisse an Katar verraten und einen Gefängnisausbruch während der Revolution 2011 organisiert zu haben. Diese Tatbestände könnten mit dem Tod bestraft werden.
Überraschend mildes Urteil
Das Verdikt vom Dienstag ist überraschend mild ausgefallen. Viele Beobachter hatten mit einem Todesurteil gerechnet. Die Länge der Strafe ist so bemessen, dass Mursi noch lange hinter Gittern bleibt, aber die Wut seiner Anhänger nicht weiter geschürt wird. Präsident Abdelfattah al-Sisi möchte vor den in den kommenden Monaten geplanten Wahlen die politische Atmosphäre nicht zusätzlich anheizen.
Anhänger der Muslimbrüder im Kampf mit Sicherheitspersonal an 19. April – eine Machtdemonstration vor dem Gerichtsprozess. (Bild: Reuters/AMR ABDALLAH DALSH)
In den vergangen Monaten sind Dutzende von Prozessen gegen Mitglieder der Muslimbrüder verhandelt worden. Am Ende standen harsche Strafen mit Hunderten von Todesurteilen. Human Rights Watch (HRW) hat diese Woche ein solches Verdikt in einem Massenprozess wegen fehlender Beweise von kriminellen Handlungen kritisiert. Die Tatsache, dass Leute, die über die Massentötungen im Sommer 2013 berichtet hätten, mit lebenslanger Haft oder gar dem Tod bestraft würden, während die Mörder in Freiheit blieben, sei ein Beleg für die verwerfliche Politisierung der ägyptischen Justiz, schreibt Joe Stark, HRW-Koordinator für den Mittleren Osten und Nordafrika. In dieses Bild passt auch der Verlauf des Prozesses gegen Mursis Vorgänger Hosni Mubarak. Die Anklage wegen des Todes friedlicher Demonstranten während der Revolution von 2011 wurde fallengelassen, vom Vorwurf der Korruption wurde er freigesprochen und seine lebenslange Haft aus der ersten Instanz aufgehoben.
Juristische Rechtfertigung für Putsch
Von den Prozessen erhoffen sich die neuen Machthaber um Präsident Sisi eine juristische Rechtfertigung für die Entmachtung der Muslimbrüder. Parallel dazu gehen auch die Bemühungen weiter, die Organisation der Muslimbrüder nicht nur zu schwächen, sondern möglichst zu vernichten.
Derzeit sind in mehreren Ministerien Säuberungsaktionen im Gang, um Loyalisten und Sympathisanten der Muslimbrüder – sogenannte schlafende Zellen – aufzuspüren. Die Polizei geht mit aller Brutalität vor. Ein Anwalt, dem vorgeworfen wurde, Mitglied der Muslimbrüder zu sein, wurde vor einigen Wochen bei der Befragung in einer Kairoer Polizeistation zu Tode gefoltert.
Mit 20’000 Islamisten im Gefängnis, die obersten drei Führungsebenen ausgeschaltet und das Vermögen von über tausend Hilfsorganisationen, Firmen und Personen konfisziert, erleben die Muslimbrüder seit ihrer Entmachtung im Sommer 2013 die schlimmste Krise ihrer über 80-jährigen Geschichte. Die Organisation erscheint «verwirrt» und «desorganisiert», wie sich der Politologe Hassan Nafaa kürzlich im Gespräch ausdrückte. Ihre Fähigkeit, Leute zu mobilisieren, ist massiv geschrumpft.
Deshalb wird auch nach dem ersten Mursi-Urteil nicht mit grossen Protesten gerechnet. Auch diese werden wohl vor allem lokal sein. Die Muslimbrüder haben sich angepasst, agieren und organisieren sich nun vor allem dezentral.
Keine ideologische Neuorientierung
Innerhalb der Organisation zeigen sich erste deutliche Risse. Eine Gruppe «Muslimbrüder ohne Gewalt» hat sich abgespalten. Einige gehen sogar so weit, zu verlangen, dass die Führung wegen ihrer Fehler belangt werden müsse. Auch ein junger Flügel hat sich immer wieder durch moderate Positionen abgehoben. Aber die Führung war bisher nicht in der Lage, eine ideologische Neuorientierung vorzunehmen. Auch die Abgrenzung gegenüber Gewaltanwendung ist nicht immer scharf.
Chancen auf eine Rückkehr auf die politische Bühne hätten die Muslimbrüder nur, wenn sie sich von einem Geheimbund zu einer offenen, transparenten Organisation mit interner Demokratie wandeln und ihrer verknöcherten Ideologie abschwören, kommentieren gewisse ihnen nahestehende Analysten. Im Moment zeigt auch die Gegenseite – das heisst das Sisi-Regime – keine Anzeichen, dass eine Verständigung mit den Islamisten gewünscht wird. Damit besteht auch die Gefahr, dass Frustration unter den Islamisten weiter in Gewalt umgeschlagen könnte.