70 Jahre Atombombenabwurf – die Ruhe nach dem Knall

Zum 50. Jahrestag gab es heftige Diskussionen um den Einsatz der «schrecklichsten aller Waffen». 2015 ist die Bereitschaft gesunken, sich kritisch mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte auseinanderzusetzen. Heute interessieren die potenziellen Atombomben der anderen: diejenigen des Irans und Nordkoreas.

A student shows the word "No Bomb" written on her palm during a peace rally to commemorate the 70th anniversary of the atomic bombings of the Japanese cities of Hiroshima and Nagasaki, in Mumbai, India, August 6, 2015. REUTERS/Danish Siddiqui

(Bild: Reuters/DANISH SIDDIQUI)

Zum 50. Jahrestag gab es heftige Diskussionen um den Einsatz der «schrecklichsten aller Waffen». 2015 ist die Bereitschaft gesunken, sich kritisch mit diesem dunklen Kapitel der Geschichte auseinanderzusetzen. Heute interessieren die potenziellen Atombomben der anderen: diejenigen des Irans und Nordkoreas.

In Hiroshima und Nagasaki ist der Atombombenabwürfe vom 6. und 9. August 1945 gedacht worden. Der japanische Premierminister Shinzo Abe bekräftigte in seinem allerdings auf die militärische Atomproblematik beschränkten Aufruf die drei an sich bekannten Prinzipien, Atomwaffen weder herzustellen noch zu lagern oder zu verbreiten. Das war und ist allerdings ein Ruf beinahe ins Leere, verglichen mit früheren Sensibilitäten für diese Gefahr.

Dieses Jahr hat die schreckliche Erfahrung, die eine Zäsur in der Geschichte der Menschheit bildet, auch bei uns etwas mehr Beachtung gefunden, weil seither runde 70 Jahre vergangen sind. Was der Einsatz von Atombomben bedeutete, der über 200’000 Menschen sogleich das Leben kostete und wegen Verbrennungen und Verstrahlungen weitere Zehntausende von Todesopfern zur Folge hatte, wurde in den aktuellen Medien mit dem zeittypischen Hang zum Privaten und Persönlichen vor allem in Schilderungen von Einzelschicksalen überlebender Zeitzeugen aufgezeigt.

Die grosse Frage, ob der bisher einzige «Kampfeinsatz» von Atombomben aus heutiger Sicht gerechtfertigt gewesen ist und wie sich das offizielle Amerika dazu stellt, blieb entweder ausgespart oder im Hintergrund. Theoretisch wäre ja denkbar, dass sich die USA – einem seit einigen Jahren praktizierten Ritual entsprechend – heute für den Abwurf der Atombomben entschuldigen und sogar über Reparationen nachdenken würden.

In Japan wird befürchtet, dass eine Entschuldigung die Anti-Atombewegung und die Opposition gegen das Militärbündnis mit den USA stärkt.

Wie durch Wikileaks schon 2011 aufgedeckt und jetzt wieder aufgewärmt worden ist, soll Präsident Obama im November 2009 erwogen haben, auf seiner Japanreise einen Abstecher in die Orte der früheren Verwüstung zu unternehmen und sich dort eben für das «using nukes» zu entschuldigen. Das fand nicht statt und war wohl auch nie ernsthaft geplant.

Eine nächste Gelegenheit hätte der amerikanische Präsident im Mai 2016, also in den letzten Monaten seiner Amtszeit, wenn die G-7-Staaten ihr 42. Treffen in Japan auf der Insel Kashiko abhalten werden. Nagasakis Bürgermeister Tomihisa Taue hat denn auch an der diesjährigen Gedenkfeier vom 9. August im Hinblick auf 2016 bereits eine öffentliche Einladung speziell an US-Präsident Obama, aber auch an andere Staatschefs ausgesprochen.

Dass die Idee von 2009 ein «nonstarter» wurde, wird vor allem auf Tokios negative Reaktion zurückgeführt. Dort habe man befürchtet, dass ein solcher Akt die japanische Anti-Atombewegung und die Opposition gegen das Militärbündnis mit den USA stärken würde.

Auch in den USA wäre eine Entschuldigung gar nicht gut angekommen, schon der blosse Gedanke an diese Eventualität setzte gehässige Kommentare frei. So wurde Obama vorgeworfen, dass er sich beim Besuch von 2009 als bisher einziger US-Präsident vor dem japanischen Kaiser verneigt habe. Obamas notorische «Sorry»-Manie könne so weit gehen, sich dafür zu entschuldigen, ein mörderisches Imperium beseitigt und in Japan den Weg für eine friedliche und freiheitliche Entwicklung geebnet zu haben.

Die Legende vom verkürzten Schlusskampf

Die Bombenabwürfe wurden auch in dieser kurzen Reaktion mit den alten Argumenten von 1945 sowie mit der späteren Rechtfertigung gutgeheissen, dass diese Einsätze mit ihren desaströsen Auswirkungen eine weitere Verwendung von Atombomben sozusagen verhindert hätten – «it made it less likely they would ever be used again». Schon 1995, anlässlich des 50-Jahr-Gedenkens, war die NZZ mit einem Beitrag auf der Frontseite zur gleichen positiven Einschätzung gekommen. Und 2005 bekam man in Washington sogar zu hören, dass dank der Bombe die 1945 noch ungeborenen Generationen von Amerikanern in Sicherheit (!) hätten aufwachsen dürfen.

Im August 1945 begründete Präsident Truman die beiden Abwürfe damit, dass man als führende Kraft der «peace loving nations» der Verwendung dieser Waffe durch andere Kräfte habe zuvorkommen wollen, dass Japan den Krieg 1941 mit dem Überfall auf Pearl Harbor ausgelöst und sich in all den Kriegsjahren über internationales Kriegsrecht hinweggesetzt habe, und dass es darum gegangen sei, mit dieser den Schlusskampf verkürzenden Aktion das Leben von Abertausenden amerikanischer Soldaten zu retten: «We have used it in order to shorten the agony of war, in order to save the lives of thousands and thousands of young Americans.»

Folgt man den Beobachtungen von Peter Kuznick vom Washingtoner Institut für Nukleargeschichte, wird die von Truman verkündete Kriegsverkürzungsthese von der älteren Generation noch immer geglaubt, während die Jungen den Abwurf als weit weniger gerechtfertigt einschätzen. Kuznick ist zuversichtlich, dass die 1945 vorgeschobenen Erklärungen mit der Zeit immer weniger Anhänger finden. Die Meinung, dass es in erster Linie um die Vermeidung von amerikanischen Kriegstoten (deren Zahl mit Distanz zu 1945 stetig wuchs) gegangen wäre, werde heute «nur noch» von 58 Prozent geteilt, während es vor 70 Jahren noch 85 Prozent gewesen waren.

Dass der Atombomben-Einsatz einer zwingenden Notwendigkeit entsprach, wurde schon früh von hohen Militärs bezweifelt.

Dass die Erinnerungsgeschichte und die damit verbundenen Einstellungen einem klaren Trend zugunsten einer Verstärkung der kritischeren Betrachtungsweise folgt, wird durch Vergleiche von 1995 und 2015 jedoch infrage gestellt. 1995 war die Bereitschaft zu einer echten Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der Geschichte nämlich grösser, als sie es heute ist. 1995 wollte sich das renommierte Smithsonian-Institut in Washington zusammen mit dem Nationalen Luft- und Raumfahrtmuseum der Frage stellen, ob der Einsatz der «schrecklichsten aller Waffen» überhaupt nötig war. Massenproteste sorgten allerdings dafür, dass das Projekt stark reduziert und banalisiert wurde. Aber es gab wenigstens heftige Diskussionen. 2015 fand nun weder das eine noch das andere statt. «1945» ist vorbei, heute interessieren die potenziellen Atombomben der anderen: diejenigen Irans und Nordkoreas.

Dass der Atombomben-Einsatz einer zwingenden Notwendigkeit entsprach, wurde schon früh von hohen Militärs (z.B. von Dwight D. Eisenhower) und seit den 1960er-Jahren von der liberalen US-Geschichtsschreibung stark in Abrede gestellt. Nagasaki jedenfalls war ein militärisch unbedeutendes Ersatzziel. Von diesem zweiten Einsatz, der im Schatten des dominanten Erinnerungsorts Hiroshima steht und immerhin 74’000 Tote zur Folge hatte, sagte Telford Taylor, der amerikanische Chefankläger von Nürnberg, das sei ein Verbrechen, «für das ich nie eine plausible Rechtfertigung gehört habe».

Die Einsatzbefürworter befürchteten sogar, dass Japan kapitulieren könnte, bevor die A-Bomben einsatzbereit wären. Ein wichtiges Handlungsmotiv war, mit der Atomkeule – dem «big stick» – die Sowjetunion einzuschüchtern. Zudem dürfte die Geringschätzung der «gelben Rasse» den Einsatzentscheid erleichtert haben, wie man 2005 in einem Beitrag des Experten Florian Coulmas sogar in der NZZ nachlesen konnte.

Brennpunkt des kollektiven Gedächtnisses

Hiroshima und Nagasaki wurden zu Brennpunkten des kollektiven Gedächtnisses, weil da Massenvernichtung in einzelnen Akten (nur ein Flugzeug, nur eine Bombe) vordemonstriert wurde. Die Opferzahlen an sich haben dem Gedächtnis nicht die Erinnerungskraft gegeben. Im März 1945 wurden mit dem Abwerfen von traditionellen Brandbomben über Tokio nicht weniger Menschen getötet als in Hiroshima. Diese Toten waren aber zu gewöhnlich, um in die Erinnerung einzugehen.

Kritiker der Bombenabwürfe vom August 1945 ziehen nicht in Zweifel, dass Japans antidemokratisches Regime (wie das der Nazis in Deutschland) völlig zerschlagen werden sollte. Das aber hätte nicht über die Massenvernichtung von Zivilbevölkerung geschehen müssen. Von Japan gab es dazu jedoch nie ein offizielles Wort der Kritik, die Abhängigkeit vom früheren Kriegsgegner und späteren Verbündeten war und ist zu gross. Japan ist zudem das letzte Land, das von den USA ein Fehler- und Schuldeingeständnis verlangen könnte, hat es doch selber in Korea, China und andernorts zahlreiche Kriegsverbrechen begangen und bekundet selber grosse Mühe, sich uneingeschränkt dafür zu entschuldigen.

Zu einer Entschuldigung für alle diese Kriegsverbrechen wird es nicht kommen. Muss es auch nicht unbedingt. Wichtiger ist, dass es zu keinen weiteren massiven Vergehen gegen die Menschlichkeit kommt, für die man später Entschuldigungen aussprechen müsste. Entschuldigungen, auf die man – sehr wahrscheinlich – wiederum vergeblich warten würde.

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