Ach, diese Volksinitiativen

Es gibt immer mehr Initiativen und immer öfter stehen sie in Konflikt mit bestehenden Vorschriften. Es braucht einen neuen Umgang mit diesem direktdemokratischen Instrument.

Eine nach der anderen: In der Schweiz werden so viele Volksinitiativen eingereicht wie noch nie. (Bild: PETER KLAUNZER)

Es gibt immer mehr Initiativen und immer öfter stehen sie in Konflikt mit bestehenden Vorschriften. Es braucht einen neuen Umgang mit diesem direktdemokratischen Instrument.

Jetzt, da wir wieder einmal drei Volksinitiativen vom Tisch haben, können wir uns mit etwas mehr Gelassenheit überlegen, was von diesem Instrument der politischen Mitsprache zu halten sei. Denn analog zum permanenten fussballerischen Hochbetrieb gilt auch hier: Nach dem Match ist schon wieder vor dem Match.

Dabei sollten wir uns den Fragen stellen, die sich mit dieser prächtigen Einrichtung verbinden. Fragen vor allem zu den Initiativen auf nationaler Ebene und nicht den kantonalen und kommunalen Ebenen, auf denen der für politische Auseinandersetzungen nötige Realitätssinn eher gegeben ist.

Vorweg das Grundbekenntnis: Volksinitiativen sind gut und notwendig, denn sie signalisieren bis zu einem gewissen Grade, wo der Schuh drückt. Sie leisten ihren Beitrag zu Kohäsion im Lande und zum Glauben an das System. Sie machen dem allzu eingespielten Politbetrieb etwas Dampf, sie stärken das Selbstwertgefühl der Bürger, sie führen zu öffentlichen Debatten, sie ermöglichen kollektives Lernen – wenn sie es auch nicht garantieren können. Und sie sind weder wegzudenken noch wegzukriegen. Vielleicht aber sind sie, wenn der Leidensdruck angesichts der Flut an Initiativen und der Fragwürdigkeit von manchen der Volksbegehren noch etwas grösser wird und die berühmte Vernunft einkehren kann, optimierbar, denn Verbesserungsbedarf besteht tatsächlich.

Ein neues Instrument, das Vorbehalte weckte

Die Schweiz kam lange Zeit ohne Initiativen aus, es gab sie weder zur Rütli-Zeit noch in den 1848er-Jahren. Und als man nach 1870 an ihre Einführung auch auf eidgenössischer Ebene dachte, da gab es bedenkenswerte Argumente auf der damals ablehnenden Seite: Argumente, die uns hochaktuell vorkommen könnten. Der «Siegeszug» der zuvor auf den kantonalen Ebenen eingeführten Initiativen schaffte den Durchbruch auf Bundesebene erst 1891 in einer Volksabstimmung, die lediglich eine 60-Prozent-Mehrheit ergab.

Am 3. Juli 1891 bezeichnete die NZZ die Initiative als «schwer auszusprechendes Fremdwort» und stufte sie als Agitationsinstrument ein, mit dem man das Volk in beständige Aufregung versetzen könne und selbst bei Niederlagen eine willkommene Reklame habe.

Die Häufung sowie die Kollisionen mit bestehenden Vorschriften zeigen, dass die Volksinitiative überdacht und ein Teil ihrer Schwächen behoben werden muss.

Jetzt aber haben wir die Initiative. Wir haben aber auch die Sorgen und Schwierigkeiten, die nicht sie, aber ihre Verwendung uns bereitet. Im Interesse einer gut funktionierenden Demokratie muss ernsthaft und sorgfältig über Reformen in diesem Bereich nachgedacht werden. Ein hemmungsloser und unverfrorener Gebrauch dieses Instruments hat zur Folge, dass das als Stärkung gemeinte Volksrecht zu einer Schwächung der Demokratie führt.

Hemmungslosigkeit und Unverfrorenheit verursachen sowohl quantitative als auch qualitative Probleme. Die Häufung der Volksinitiativen sowie die Kollisionen mit bestehenden Vorschriften zeigen, dass die Volksinitiative überdacht und ein Teil ihrer Schwächen behoben werden muss.

 Bisher hatten die Schweizer Bürger (seit 1971 auch die Bürgerinnen) 196 Mal die Möglichkeit, in Abstimmungen über Volksinitiativen die Bundesverfassung mit einer neuen Bestimmung gleichsam anzureichern. Den Entscheidungsträgern dürfte dabei kaum die Verfassung insgesamt vor Augen gestanden haben, sondern eine punktuelle Bestimmung, zu der man Ja oder Nein sagen konnte.

Dichtestress der direkten Demokratie

Bisher fanden 22 Initiativen eine Mehrheit vor dem Souverän, was über die ganze Zeit eine Erfolgsquote von 11,2 Prozent ergibt. Vor wenigen Jahren noch waren die Erfolgsaussichten für Volksinitiativen gering. Doch in den letzten Jahren hat sich das stark verändert.

Verändert hat sich auch die Häufigkeit solcher Vorlagen. Zurzeit sind 17 Initiativen hängig im Verarbeitungsprozess oder abstimmungsreif, und elf Initiativen befinden sich im Sammelstadium. Soeben ist eine weitere – gegen Windräder – angekündigt worden. Die Schweiz erlebt Dichtestress nicht nur wegen «Masseneinwanderung», sondern auch im Bereich der Volksbegehren. Bis jetzt gab es auf eidgenössischer Ebene vier Abstimmungstermine pro Jahr, diese werden auch für andere Vorlagekategorien verwendet, für obligatorischen und fakultative Referenden sowie kantonale und kommunale Geschäfte.

Ein quantitatives Problem?

Ein Vorschlag will das Problem mit der Erhöhung der Unterschriftenzahl entschärfen. Unter dem numerischen Aspekt wäre das an sich gerechtfertigt, weil es heute wegen der Zunahme der Zahl der Stimmberechtigten etwa viermal leichter ist, die nötigen Unterschriften zusammenzubekommen als im Moment der Erfindung, von den anderen Erleichterungen unserer modernen Kommunikationsgesellschaft ganz abgesehen.

Gegen die Erhöhung der Minimalzahlen gibt es jedoch zwei überzeugende Argumente: Erstens werden so die schwächeren Kräfte, für die dieses Instrument eigentlich gedacht ist, getroffen, während die stärkeren Kräfte damit nicht wirklich gebremst werden. Und zweitens kann man mit Blick auf die kantonalen Verhältnisse feststellen, dass die Kantone, die verhältnismässig viele Unterschriften verlangen, nicht weniger Volksbegehren haben als Kantone mit geringen Quoten.

Immerhin sollten wir uns auch bewusst sein, welchen Aufwand die hemmungslos von ihrem «guten Recht» Gebrauch machenden Bürger und Bürgerinnen auslösen: Die Gemeinden wenden pro Jahr rund 3700 Arbeitstage für die sogenannte Beglaubigung von Unterschriften auf. Weiterer Aufwand entsteht im gesamten Politbetrieb, mit der Ausarbeitung der Botschaften, mit den Beratungen in den eidgenössischen Räten, mit den nötig werdenden Abstimmungskämpfen (wovon allerdings die Werbebranche gut lebt) und mit der Belastung des Abstimmungskalenders.

Ein qualitatives Problem

Anfang Oktober 2014 wurde bekannt, dass die nicht als revolutionär geltende Staatspolitische Kommission (SPK) des Ständerats die Volksinitiativen restriktiver behandelt sehen will. Keine Genehmigung sollen Initiativen erhalten, welche gegen das Diskriminierungsverbot, das Prinzip der Verhältnismässigkeit und das Rückwirkungsverbot verstossen (was bei der SP-Erbschaftsinitiative der Fall wäre). Weiter sollen sich Initiativen auf «grundlegende Prinzipien» beschränken und nicht selbst Gesetzescharakter haben, der dem Parlament keinen Handlungsspielraum mehr lässt.

Im Weiteren soll das Parlament in der Umsetzung der Initiativen eine Auslegung vornehmen, die eine Übereinstimmung mit der bereits bestehenden Verfassung anstrebt und dabei allenfalls auch das Bundesgericht einbeziehen. Eine Präsentation dieses Vorschlags ist noch «vor Mitte 2015» in Aussicht gestellt. Damit ist aber noch gar nichts unter Dach. Hinzu kommen müsste auch ein Verbot von Durchsetzungsinitiativen, weil diese Bundesrat und Parlament die wichtige Aufgabe der Umsetzung wegnehmen will.

Das Parlament muss die direkte Demokratie in konstruktive Bahnen lenken.

Wie zu erwarten, meldeten sich sogleich Bedenken und geharnischte Abwehrreaktionen vor allem im rechten, aber auch im linken Lager. Entschieden gegen jede Reform ist die populistische Rechte. Der SVP-Parteipräsident Toni Brunner gab zu Protokoll, dass er von den Vorschlägen der SPK «gar nichts» halte, dies bestätige nur einmal mehr, dass Politiker und Behörden das Volk zunehmend entmachten wollten, weil ihnen die Volksentscheide nicht passen.

Diese Haltung ist in Anbetracht ihrer penetranten Berufung auf das Volk und ihrer systematischen Diffamierung der Behörden (aller drei Gewalten) nachvollziehbar, aber auch im Lichte der Tatsache, dass die eine und andere erfolgreiche Initiative (die Minarettinitiative von 2009 und die Ausschaffungsinitiative von 2010) in einer Prüfung nach den neuen Kriterien hängen geblieben wäre.

Der Schlüssel für die Entschärfung dieser Situation liegt beim Parlament, bei der repräsentativen Demokratie. Sie muss die direkte Demokratie in konstruktive Bahnen lenken. Sie darf es aber nicht angesichts jeweils anstehender punktueller Herausforderungen durch bestimmte Initiativen tun, weil sich sonst sogleich die Frage der Parteilichkeit stellt und weil sie sich dem Vorwurf aussetzen würde, die Regeln im laufenden Spiel zu ändern. Das Parlament muss das ernste Problem grundsätzlich und mittelfristig lösen, aber das muss es jetzt an die Hand nehmen.

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