Achtung, böser Staat

Die Basis einen, das Weltbild verteidigen. Für die SVP kommt die Abstimmung über den Familien-Artikel wie gerufen.

Zustände wie in der DDR? Die SVP fürchtet sich vor «Staatskindern» und eint mit der Abstimmung über den Familien-Artikel gleichzeitig ihre Basis. (Bild: Imago)

Die Basis einen, das Weltbild verteidigen. Für die SVP kommt die Abstimmung über den Familien-Artikel wie gerufen.

Ab dem 1. Februar beehrt die SVP ihre Schweiz zum zweiten Mal mit einem Extrablatt. Die gedruckte Zeitung (O-Ton Christoph Blocher: «Der Internet-Boom ist eine vorübergehende Sache») wird in alle Haushalte der Schweiz verteilt und soll aufzeigen, «wie die Verstaatlichung unserer Kinder neue Formen annimmt und warum der Familien-Artikel unbedingt abzulehnen ist», wie die Partei diese Woche mitteilte.

Für das Extrablatt habe die SVP mehrere Gastautoren gewinnen können, heisst es in der Mitteilung weiter. Zum Familien-Artikel werden unter anderem Silvia Blocher, Ehefrau von Christoph und «Weltwoche»-Familien-Kolumnistin, und Markus Somm, Chefredaktor der BaZ, publizieren. Letzterer hat sich bereits am Familien-Artikel abgearbeitet. In einem Leitartikel vom Dezember wurde Somm grundsätzlich: Der neue Verfassungsartikel stelle mit seinem «merkwürdigen, paternalistischen Menschenbild» alles infrage, was den Erfolg dieses Landes begründet habe.

Der Leitartikel in der BaZ war der Auftakt einer wohlorchestrierten Kampagne der SVP, die ihren vorläufigen Höhepunkt in der Stimmrechtsbeschwerde von dieser Woche gefunden hat. Die Partei wirft dem Bundesrat vor, die finanziellen Folgen des neuen Verfassungsartikels zu verheimlichen und fordert darum, die Abstimmung abzusagen.

Der kleinstmögliche Nenner

Die Führungsetage der SVP agiert dabei geschickt auf zwei verschiedenen Ebenen: Erstens schwört die Führung ihre Basis auf ein Thema ein, bei dem es auch parteiintern keinen Widerstand gibt. Die traditionelle Familie als kleinstmögliche und bestmögliche Einheit der Heimat; die Angst vor «Staatskindern» und «Zuständen wie in der DDR»; die Ablehnung von externer und vor allem staatlich geförderter Kinderbetreuung – das sind alles Argumentationsstränge, denen jedes gute Parteimitglied problemlos zustimmen kann.

Zweitens – und fast noch wichtiger – lenkt die SVP mit der Konzentration auf den Familien-Artikel von der kräftezehrenden Auseinandersetzung rund um die Abzocker-Initiative ab. Christoph Blocher gegen Thomas Minder, Christoph Blocher gegen seinen Schwiegersohn Roberto Martullo, Christoph Blocher gegen die eigene Basis, die die Initiative grossmehrheitlich annehmen wird, und – nicht zu vergessen – Christoph Mörgeli, der Teile der Aargauer SVP als «sektiererisch» bezeichnet, weil sie die Initiative unterstützt: Die Debatte rund um die Abzocker-Initiative schadet der SVP. «Hören Sie auf damit», entgegnet Silvia Bär, die stellvertretende Generalsekretärin, «bei der SVP findet wenigstens eine rege und offene Debatte statt, bei den anderen Parteien gibt es diese schon gar nicht mehr.»

Die SVP-Führung will mit dem Familien-Artikel ihre Basis einen.

Trotz der Beteuerung von Silvia Bär ist es auffällig, wie die Spitze ihrer eigenen Partei keine Gelegenheit auslässt, um der Basis die immer gleiche Formel einzuimpfen: Der Familien-Artikel ist viel wichtiger als die Abzocker-Initiative. Und: Die Medien wollen die Partei spalten. An der Delegiertenversammlung der Aargauer SVP rief Christoph Blocher nach seiner knappen Niederlage in den Saal: «Diese Medien da drüben interessiert unsere gelebte Demokratie gar nicht. Die sind nicht da, weil sie wissen wollen, wie Sie abgestimmt haben. Die wollen einen Keil durch unsere Partei treiben!»

Der Zahlenstreit

Einen positiven Effekt der SVP-Attacke auf den Familien-Artikel darf man aber nicht unterschlagen: Sie lanciert und ermöglicht überhaupt erst eine Debatte. Bisher stand der Familien-Artikel im Schatten von Abzocker-Initiative und Raumplanungsgesetz und wurde nicht weiter hinterfragt. Dabei rührt der neue Verfassungsartikel, der einigermassen unverbindlich daherkommt («Die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf»), an einer zentralen Frage unserer Gesellschaft: Wie wollen wir leben? Wie lässt sich die Vereinbarkeit von Beruf und Familie tatsächlich verbessern? Und was ist uns das alles wert?

Noch dreht sich diese Debatte um abstruse Zahlen (mit 12 Milliarden Franken Folgekosten rechnet die SVP, als «Angstmacherei» tut das die Gegenseite ab), aber noch ist ja auch etwas Zeit bis zum 3. März.

Quellen

Leitartikel von Markus Somm in der BaZ.

Medienmitteilung und Stimmrechtsbeschwerde der SVP.

Dossier des Bundes zum Familien-Artikel.

Website der Gegner und der Befürworter des Familien-Artikels.

Artikelgeschichte

Erschienen in der gedruckten TagesWoche vom 01.02.13

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