Präsident Morsi hat in der Armee einen Generationenwechsel vollzogen und den Generälen die politische Macht entzogen. Die «Offiziersrepublik» hat er aber intakt gelassen.
Noch immer gibt es kleinere Erschütterungen nach dem grossen Erdbeben in der ägyptischen Armee vom 12. August. In den letzten Tagen hat der neue Verteidigungsminister Abdel Fatah al-Sisi weitere Beförderungen und Verschiebungen, zum Beispiel in der Militärjustiz, vorgenommen. Je mehr sich der Staub setzt, je klarer wird das Bild des umfassenden, zügig umgesetzten Revirements, das mit der Auswechslung des Geheimdienstchefs und des Kommandanten der Präsidialgarde als erstem Schritt, vorsorglich abgesichert war.
Nach dem Anschlag auf einen Grenzposten mit 16 Toten, der als nationale Tragödie und Versagen der Sicherheitskräfte empfunden wurde, hat Mohammed Morsi die Gunst der Stunde geschickt genutzt und die bereits geplante Pensionierung von Feldmarschall Tantawi und Generalstabchef Sami Anan vorgezogen. Die beiden waren die starken Männer im Obersten Militärrat (Scaf) gewesen, der das Land seit dem Sturz von Hosni Mubarak im Februar 2011 regiert hatte. Der 76-jährige Tantawi war 22 Jahre lang Verteidigungsminister. Als zweiten Schritt hat Morsi dem Scaf die politische Macht entzogen, die er sich vor der Wahl eines zivilen Präsidenten handstreichartig angeeignet hatte.
Zuviel Politik – zu wenig Professionalität
Morsis Coups, der bisher sechs der 19 Scaf-Mitglieder ihren Job gekostet hat, ist überraschend geräusch- und widerstandslos über die Bühne gegangen. «Die Unzufriedenheit im jüngeren Offizierscorps und die Kluft zur Tantawi-Generation wurde immer grösser. Die jüngeren Offiziere sind gegen eine politische Rolle, sehen den Reformbedarf der veralteten Armee und haben keine Berührungsängste mit den Muslimbrüdern», weiss ein ausländischer Militärexperte in Kairo aus eigener Anschauung. Im April gab es in Alexandria bereits eine Mini-Revolte von etwa 500 Offizieren, die bessere Bedingungen forderten. „Der Verstrickung der Militärs in die Politik hatte extrem negative Effekte auf die Institution selbst und ihre Fähigkeit, ihre eigentliche Rolle zu spielen“, stellt auch der Politologe Amr Shobaki in einem Zeitungskommentar fest. Morsi hat in seinen ersten Amtstagen viele Militäranlässe besucht und die Lage schnell erfasst.
Dem neuen Armeechef, Abdel Fatah al-Sisi, der bisher dem militärischen Geheimdienst vorstand, wird zugetraut, dass er die längst fällige Modernisierung der Armee professionell angeht. Auf dem Sinai zeigt sich derzeit, wie wenig eine schwerfällige Feldarmee gegen die Bedrohung durch Terroristen ausrichten kann. Sisi war mit seinen 58 Jahren das jüngste Scaf-Mitglied und hat eine höhere militärische Ausbildung in England und den USA abgeschlossen. Mit Morsi scheint er sich gut zu verstehen. Sisi als Person ist selbst sehr religiös, so wie überhaupt der Offizierskader viel religiöser sei, als sich die Armee nach aussen den Anschein gebe, erklärt der Militärexperte.
Kampagne gegen «safe exit»
Das belegt auch ein akademisches Papier, das der neu ernannte Generalstabchef Sedki Sobhi 2005 in den USA verfasst hatte. Er schrieb damals, die Religion in der arabischen Welt sei stark mit der Gesellschaft und der Regierung verflochten und der Demokratisierungsprozess müsse ein Projekt sein, das politische, soziale, kulturelle und religiöse Legitimität habe. Faktisch hatte die Armee keine andere Wahl, als sich mit den Muslimbrüdern zu arrangieren. Die Muslimbrüder seien derzeit die einzige starke, verlässliche politische Kraft. Sie habe sich immer extrem anpassungsfähig gezeigt und ihre Ziele nach den Möglichkeiten ausgerichtet, meinte kürzlich ein ausländischer Politologe zu Gast in Kairo.
Das Revirement in der Armee war primär ein Generationenwechsel. In den meisten Fällen sind die bisherigen Stellvertreter nachgerückt. Mit der Verleihung von hohen Orden an Tantawi und Anan und der Zusicherung von Straffreiheit, hat der Präsident den beiden einen ehrenvollen, gesichtswahrenden Abgang ermöglicht. Dagegen regt sich aber bereits Widerstand von Revolutionsaktivisten, die eine Kampagne «no safe exit» lanciert haben. Sie sammeln Unterschriften für eine Petition und bereiten Videos vor, mit denen die Verbrechen, die sie den abgesetzten Generälen anlasten, dokumentiert werden sollen.
Morsi hat auch das System von Privilegien und Pfründen nicht angetastet, das Yezid Sayigh, Analyst der Carnegie Stiftung, «Offiziersrepublik» genannt hat. Das Gespann Mubarak-Tantawi hatte ein Patronage-System eingeführt, das führenden Offizieren nach ihrer Pensionierung gut dotierte Posten in Ministerien, Behörden, Staatsfirmen und Lokalverwaltungen garantierte. An fast allen einflussreichen Positionen im Land sitzen deshalb ehemalige Offiziere. Morsi hält an dieser Tradition fest. Drei der entlassenen Generäle wurden mit den lukrativsten Jobs (Suezkanal-Behörde, militärischer Industriesektor und Minister für Militärproduktion) an der Schnittstelle von Militär- und Zivilsektor bedacht. Auch an den engen Beziehungen der ägyptischen Armee zu den USA wurde nicht gerüttelt. Zwar wurde das Revirement nicht mit Washington abgesprochen, aber die Ernennung des amerikafreundlichen Mohammed al-Assar zum stellvertretenden Verteidigungsminister sorgt für Kontinuität.
Machtpoker geht in die nächste Runde
Mit seinem überraschenden Befreiungsschlag hat Ägyptens demokratisch gewählter Präsident gleich eine ganze Reihe von Zielen erreicht: Er hat seine eigene Position zementiert, die Macht der Militärspitze auf mehr Köpfe verteilt und sich durch Beförderungen und Versprechen, besser für die niedrigeren Chargen und gewöhnlichen Soldaten zu sorgen, Loyalitäten gesichert. Die Folge dürfte auch eine bessere Kommunikation zwischen politischer und militärischer Führung sein. Damit wäre eines der grössten Probleme in den nachrevolutionären Wirren entschärft.
Und schliesslich hat Morsi seine Ausgangslage für die nächste Runde im Kräftepoker zwischen Armee und ziviler Macht verbessert. Die wird in den kommenden Wochen bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung ausgetragen. Da wird entschieden, wie gross in Zukunft die «Komfortzone» des Militärs – wie sich der ausländische Politologe ausdrückt – sein wird, das heisst jener Bereich, der nicht der zivilen Autorität untersteht und von einer demokratischen Kontrolle ausgeschlossen wird. Im Frühjahr hatten die Generäle noch gewarnt, sie würden nie einen Einblick in ihren Industriesektor und eine parlamentarische Kontrolle ihres Budgets zulassen. Politische Beobachter wagen im Moment noch nicht vorauszusagen, ob Morsi und die Muslimbrüder, gestärkt durch den ersten Coups, es wagen werden, auch diese roten Linien zu überschreiten.