Ahmed Aboutaleb: «Lasst euch nicht unterkriegen, Muslime, seht euch als fantastische Bürger der Zukunft»

Erasmus von Rotterdam hat 1516 in Basel den griechischen Urtext der Bibel herausgegeben. Zum 500-Jahr-Jubiläum plädiert der muslimische Bürgermeister von Rotterdam in Basel für Weltoffenheit.

Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister von Rotterdam, im Grossratssaal von Basel-Stadt.

(Bild: Hans-Jörg Walter)

Erasmus von Rotterdam hat 1516 in Basel den griechischen Urtext der Bibel herausgegeben. Zum 500-Jahr-Jubiläum plädiert der muslimische Bürgermeister von Rotterdam in Basel für Weltoffenheit.

«In Basel teilen wir Ihre Philosophie», sagte der Basler Stadtpräsident Guy Morin beim Empfang von Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister von Rotterdam. Die beiden Hafenstädte verbinde mehr als der Rhein.

Morin sei fasziniert davon, wie sich Aboutaleb an der Migrationsdebatte beteilige, «und wie Sie sich für einen Islam der Toleranz einsetzen, Brücken bauen in Ihrer Stadt». Auch in diesen Dingen sei man sich verbunden: In Basel teile man die Überzeugung, dass alle profitieren, wenn alle willkommen sind. Morin: «Wir helfen allen, Deutsch zu lernen, und bringen die verschiedenen religiösen Gruppen zusammen.»

Anlass des Empfangs war das Jubiläumsjahr der Basler Erasmus-Bibel im Jahr 2016: Erasmus von Rotterdam hatte mit der erstmaligen Publikation des gesamten griechischen Urtextes den Grundstein zur modernen Bibelforschung gelegt. Vom 13. bis zum 15. Juni ist eine Delegation aus Rotterdam in Basel. Man spricht über wirtschaftliche Themen, über Migrationspolitik und Kulturelles.

Der Gast bedankte sich bei den Gastgebern – und hielt spontan eine 15-minütige Rede, frei, für die sich die Anwesenden aus Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur mit langem Applaus bedankten. Ahmed Aboutaleb, der Sohn eines Bauern und Imams aus einem kleinen Dorf im marokkanischen Rif-Gebirge, der es zum weltweit geachteten Politiker gebracht hat, verwandelte den schmucken Saal im Nu in seine Bühne.




Der Basler Regierungspräsident Guy Morin überreicht Ahmed Aboutaleb, Bürgermeister von Rotterdam, ein Faksimile einer Ansicht der Stadt Basel aus der Schedelschen Weltchronik von 1493. (Foto: Hans-Jörg Walter)

«Erasmus von Rotterdam hat mich viel gelehrt.»

Erasmus von Rotterdam habe ihn viel gelehrt, sagte der Bürgermeister der Stadt mit dem grössten Hafen Europas. Schliesslich sei er durch einen Heiligen zu seinem Namen gekommen (Aboutaleb spricht auf Erasmus von Antiochia an, Anmerkung der Redaktion). Dieser sei, in Syrien von Römern verfolgt, letztlich über die Berge und das Mittelmeer in Italien angekommen.

«Es hat sich nicht viel verändert. Erasmus, ein Flüchtling aus Syrien, in Italien, vor all den Jahren», so Aboutaleb. «Historiker sagen gelegentlich, die Geschichte wiederhole sich durchaus, aber nie unter den genau gleichen Umständen. Hier sind wir wieder, es geht um Migration, europäische Städte, Instabilität, Flüchtlinge – es betrifft die ganze Welt.»

Und so spannte Aboutaleb mit Leichtigkeit einen Bogen, der von 300 nach Christus (Erasmus von Antiochia) über den Humanismus (Erasmus von Rotterdam), die Aufklärung und die Demokratie bis zur modernen Stadt der Gegenwart reichte. Und was Letztere leisten müsse, weil sie, und nur sie, Zukunft, Fortschritt und Frieden bedeute.

Das sieht Ahmed Aboutaleb als seine Aufgabe, die Verbreitung dieser Ideen ist seine Mission – auch in Basel. Der Mann, der nach den Pariser Anschlägen am Fernsehen zur muslimischen Gemeinde sagte: «Wenn euch die Freiheit hier nicht passt, packt eure Koffer und geht!», setzt den Dialog, die Verständigung, die soziale Integration ins Zentrum aller Anstrengungen. In Basel sagte er: «Integration bedeutet nicht, seine Identität zu verlieren. Sie bedeutet, mehr über die Identität des anderen zu wissen. Eine Referenz zu haben.»

Es werden vermehrt Stimmen laut, die Unterschiede zwischen Menschen machen.

Ich weiss, dass der Islam, dass die Muslime derzeit das Ziel von Kritik sind in Europa. Es gibt viel Fremdenfeindlichkeit, es gibt Rassismus. Und trotzdem verlange ich von Muslimen: Nehmt nicht eine Opferrolle an, lasst euch nicht unterkriegen. Seht euch als fantastische Bürger der Zukunft. Tretet hervor, zeigt euch, nehmt Teil am Leben der Gemeinschaft – und wir werden auf euch bauen, und ihr werdet innerhalb der nächsten Jahrzehnte diese Stadt mitbesitzen, sie wird auch eure Stadt sein. Vielleicht nicht für euch, aber für eure Kinder. Diese Botschaft stösst nicht auf breite Zustimmung unter Muslimen in den Niederlanden. Aber ich muss sie verbreiten, weil ich wirklich glaube, dass das der einzige Weg ist, eine stabile Gesellschaft zu bauen. Andererseits müssen wir die Mehrheit ebenso dazu anhalten, ihre Türen zu öffnen. Wenn jemand an die Tür klopft und mitmachen möchte, aber man hält ihm die Tür zu, funktioniert das auch nicht.

Die Einheimischen müssen sich mit-integrieren?

Integration ist ein gemeinsamer Prozess. Es ist faszinierend, die Leute davon zu überzeugen, dass genau das eine stabile Zukunft unserer Städte bedeutet – nichts anderes. Wenn eine Stadt nicht stabil ist, dann wird kein Investor an ihr interessiert sein. Das bedeutet Job-Probleme, das bedeutet Sicherheits-Probleme etc. Kurz: Bei der Stabilität fängt alles an. Sie ist das Fundament für eine prosperierende Stadt mit Zukunft. Manchmal sagen Leute: Dieser Bürgermeister muss das sagen, er hat Ambitionen auf ein höheres Amt, ihm geht es nur um seine Person. Lassen Sie mich erwidern: Ich sitze sehr gut auf meinem politischen Stuhl. Aber wenn dieser Stuhl verschwinden sollte, beherrsche ich immer noch alle Methoden des Kartoffelanbaus. Ich bin der Sohn eines Bauern.

Wie wichtig ist es für Sie, dass die Leute Sie mögen?

In der Politik können Sie nicht nur Freunde machen. Sie müssen auch Opposition haben. Und Feinde. Leider habe ich auch Feinde. Deshalb lebe ich unter Personenschutz. Opposition ist okay, aber Feinde sind weniger gut zu ertragen: Es ist nicht schön, wenn man weiss, dass da jemand ist, der dich umbringen will. Das ist eine Realität, mit der ich umgehen muss. Auf der anderen Seite spüre ich grosse Unterstützung, und das ist wichtig. Wenn ich meine Vision meiner Stadt vertrete, am TV, Radio, in einem Zeitungsartikel, dann erhalte ich Hunderte E-Mails und Briefe. Auch Kritik, aber meistens sehr wohlwollende.

«In der Politik können Sie nicht nur Freunde machen. Sie müssen auch Opposition haben. Und Feinde. Deshalb lebe ich unter Personenschutz.»

Was, denken Sie, kann Basel von Rotterdam lernen?

Ich fühle mich nicht in der Position, den Leuten in Basel zu sagen, was sie tun sollen. Basler sind kluge, weltoffene Bürger, und die Regierung hat ein Auge auf die Dinge, die in der Welt geschehen. Das tun wir alle. Ich denke, wir sollten alle vorausschauend sein: Unsere Wertschöpfung sollte nachhaltig sein, nicht kurzfristig gedacht, und sie sollte auf Werte wie Natur- und Ressourcenschutz bauen ­– neue Wege, mit Mutter Erde, dem Wasser und dem Leben umzugehen. Das ist hier sicher dasselbe wie in Rotterdam.

Sie sind zwar erst gerade angekommen, aber was kann Rotterdam von Basel lernen?

Nun, ich bin gespannt, warum das Land in 26 Kantone aufgeteilt ist und wie das in der Praxis gehen soll. Und ich bin auch gespannt, wie die Schweiz das mit der direkten Demokratie hinkriegt. Ich persönlich bin kein Fan des Referendums – ich bevorzuge die direkte Beteiligung und die repräsentative Demokratie –, aber wir in den Niederlanden sind neugierig herauszufinden, wie sich dieses Modell bei euch schon so lange Zeit hält.

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