Die Demokratie lebt von den revoltierenden Menschen, macht sie möglich und weiss um ihre Bedeutung für eine Gesellschaft. Andreas Gross über Albert Camus‘ politische Philosophie.
Es gibt Schriftstellerinnen und Schriftsteller, deren Werke nicht nur hochpolitisch sind, sondern auch Inspirationsquellen für unsere Sammlung von Mosaiksteinen, welche das Gesamtkunstwerk der Demokratie ausmachen. Der französische Schriftsteller aus Algerien, Albert Camus (1913-1960), ist so einer, der eigentlich Ecksteine lieferte für eine emanzipative Demokratietheorie.
Albert Camus’ grosse literarische Werke wie «Der Fremde» oder «Die Pest» kennen die meisten. Ebenso sein Bild des Sisyphos, der immer wieder die Kugel den Berg hinauf schiebt, obwohl er weiss, dass sie – eine «Strafe der Götter» – wieder runterrutschen wird und er es nie ganz schaffen wird. Aber er tut es trotzdem. Und empfindet sich dabei sogar als «Glücklicher», wie Camus betont hat.
Streit mit Sartre
Als Albert Camus’ philosophisches Hauptwerk erwies sich neben dem «Mythos des Sisyphos» aus dem Jahr 1942 das 1951 erschienene Buch «Der Mensch in der Revolte» (MidR). Dessen politische Bedeutung geriet allerdings vor allem bei der Linken wohl deswegen schnell in Vergessenheit, weil das Buch vom damaligen philosophischen Leithammel Jean-Paul Sartre kurz nach Erscheinen in dessen Pariser Zeitschrift «Les Temps Modernes» in jeglicher Hinsicht verrissen wurde.
Quelle des Zwists waren unterschiedliche Einschätzungen des Marxismus, der Form und des Wesens einer linken Partei und wohl auch der Sowjetunion, deren totalitäre Strukturen von Camus viel früher kritisiert wurden als von Sartre. Der Streit beendete eine intensive freundschaftliche Beziehung auf einen Schlag und endgültig – die beiden sprachen bis zum Tod Camus‘ nie wieder miteinander.
Eine libertäre Theorie
Sartre respektierte Camus zwar zeitlebens, doch seine wie so oft überzogene Kritik stellte Camus für viele Linke sehr schnell und für viel zu lange ins Abseits. Zu unrecht, wie der Salzburger Wissenschaftler Markus Pausch kürzlich in einem klugen Aufsatz darlegt (veröffentlicht in der Zeitschrift «Leviathan», Berlin, 2014, Nummer 2). Zu viele, so meint Pausch, verdrängten, was er als Camus’ politisches Vermächtnis bezeichnet: Eine libertäre und auf Bewegung orientierte Theorie der Demokratie, wie es sie im 20. Jahrhundert viel zu selten gab.
Dass sich Albert Camus als Linker verstand, kann im Übrigen nicht bezweifelt werden. So sagte er von sich selber einmal: «Ich gehöre zur Linken: mir und ihr zum Trotz!»
Die Revolte, so Camus, bejahe das Leben und die Freiheit und lehne ab, was diese beiden bedroht.
Albert Camus‘ Grundannahme: Der Mensch wird in eine sinnlose Welt geboren. Unser Dasein habe keinen objektiven Sinn. Denn die Welt sei absurd. Deshalb hiess weiterleben für Camus revoltieren. Dies im vollen Bewusstsein wonach die Revolte nie ganz gelingen könne und des Wissens um die Widersprüchlichkeit seines Lebensprinzips: «Ich revoltiere, also bin ich.» Die Revolte, so Camus, bejahe das Leben und die Freiheit und lehne ab, was diese beiden bedroht. Deshalb die «Empörung» (Stéphane Hessel) und der Widerstand – die beiden wohl etwas zeitgemässeren Begriffe für Camus‘ «Revolte» – gegen jede Form der Ungerechtigkeit zwischen und der Unterdrückung von Menschen.
Dabei setzte Camus die Freiheit nicht absolut. Vielmehr müssen Freiheit und Gerechtigkeit einander begrenzen: «Die absolute Freiheit ist das Recht des Stärkeren zu herrschen. Die absolute Gerechtigkeit schreitet über die Unterdrückung jedes Widerspruchs: Sie zerstört die Freiheit.» Und: «Der Revoltierende verlangt ohne Zweifel eine gewisse Freiheit für sich selbst (…) Doch die fordert er für alle; diejenige, die er ablehnt, verbietet er allen.» (MidR)
Die Garantie des Zweifelns
Die Revolte richtet sich bei Camus gegen alle totalitären Herrschaftssysteme; auch gegen ein System, dass den Markt, den Wettbewerb, verabsolutiert, also total gelten lassen will. Ebenso gegen Ideologien, welche prinzipiell alle Menschen befreien wollen, aber glaubten, dafür einige vorübergehend knechten zu dürfen. Die Revolte verliert bei Camus erst in dem Moment ihre Legitimität, in dem sie ihre eigenen Prinzipien missachtet, beispielsweise zu den Waffen greift.
Für Camus ist die Demokratie die Staatsform der Revolte. Das heisst: Die Demokratie lebt von den revoltierenden Menschen, macht sie möglich und weiss um ihre Bedeutung für eine Gesellschaft, welche – weltweit, wie Camus betont – die Lebenschancen gerecht verteilen und so die Freiheit aller mehren will. Camus verlangt aber von der demokratischen Verfassung die Ermöglichung, ja die Garantie, des individuellen wie gesellschaftlichen Zweifelns, des Fragen-, des Nachfragen- und des Infragestellen-Könnens, des Dialogs, der Diskussion, des Widerspruchs, des Suchens.
In sein Tagebuch schrieb Camus: «Die Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Beschützerin der Minderheiten.»
Und so sehr er um die Bedeutung der Mehrheit in der Demokratie zur Bestimmung des vorerst rechtlich Gültigen weiss, betont Camus in einem Tagebucheintrag: «Die Demokratie ist nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern die Beschützerin der Minderheiten.» Denn auch die Mehrheit verschafft dem Leben nicht unbedingt einen Sinn; der kann bei Minderheiten genauso – temporär zumindest – zu finden sein, wenn es ihn dann wirklich doch noch geben sollte.
Und schliesslich findet sich in einem Aufsatz Camus‘ aus dem Jahre 1948 die schöne Bauanleitung: «Die Demokratie kann nur gefordert, geschaffen und bewahrt werden von Menschen, die wissen, dass sie nicht alles wissen. Der Demokrat ist bescheiden.» Die Demokratin gewiss auch. Das gäbe wenigstens unserem Tun einen menschlichen Sinn.